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Abgrund. Vielleicht meine böse Seele. Vielleicht auch jene Seele, die, vergänglich und rätselhaft, alles auf dieser endlichen Welt niederschrieb.

      Sieben Fässer blieben wie schlafende Tiere im Dunkeln am Fuße des Abhangs liegen. Das Auto hatte sich überschlagen, als mein Onkel versuchte, den zweiten Hügel zu überqueren. Die Fässer rollten mit dem Auto den Abhang hinab. Ich verbrachte die Nacht bewusstlos in meinem finsteren, verschlossenen Fass. Am frühen Morgen drangen Sonnenstrahlen durch die Löcher im Fass – Atemfäden, die einen Ertrinkenden erreichten. Mein Mund war voller Blut, meine Hände zitterten. Hoffnung und Furcht zerrten an mir. Ich betrachtete die Strahlen, die sich im Fass seltsam kreuzten. Und ich versuchte, Ordnung in mein durchgeschütteltes Gehirn zu bringen. Mir war, als hätte ich Tonnen von Marihuana geraucht: ein Fisch, der in einer Sardinendose aufwacht, ein toter Wurm in einem verlassenen Brunnen, ein verwesender Embryo mit zermalmten Knochen in einem fassförmigen Mutterleib. Schließlich krallte sich in meinem Gehirn das Bild meines Bruders fest, der in der Senkgrube versinkt und dem ich folge.

      Das Meckern der Ziegen drang zunächst nur schwach an meine Ohren. Wie eine Gruppe, die ein Lied einübt. Eine Ziege meckerte los, dann eine nächste und eine nächste, und schließlich schienen sich alle in der richtigen Melodie gefunden zu haben. Dann rief der Hirte nach der Herde. Eine Ziege stieß gegen mein Fass. Ein Strahl bewegte sich und traf mich tief ins Auge. Und hier im Fass machte ich mir in die Hose, entsetzt über die erbarmungslose Welt, in die ich zurückkehren sollte.

      Archiv und Wirklichkeit

      Jeder, der ins Aufnahmezentrum für Flüchtlinge kommt, hat zwei Geschichten: eine, die der Wirklichkeit entspricht, und eine andere, die fürs Archiv gedacht ist. Diejenigen Geschichten, die fürs Archiv gedacht sind, werden von den Neuankömmlingen erzählt, um als Flüchtling aus humanitären Gründen anerkannt zu werden. Diese Geschichten werden bei der Befragung niedergeschrieben und in den Personalakten abgelegt. Die eigentlichen Geschichten bleiben in der Brust der Flüchtlinge verwahrt und können von ihnen ganz im Geheimen wieder und wieder vergegenwärtigt werden. Das heißt aber nicht, dass die Grenzen zwischen den beiden Narrativen leicht zu ziehen sind. Die beiden können sich bis zur Unkenntlichkeit vermischen.

       Vor zwei Tagen kam wieder ein irakischer Flüchtling nach Malmö in Südschweden. Ein hagerer Mann Ende dreißig. Man brachte ihn in die Aufnahmestation und unterzog ihn einiger medizinischer Untersuchungen. Dann wies man ihm ein Bett in einem Zimmer zu und gab ihm ein Handtuch, ein Bettlaken, Seife, Löffel, Gabel und Messer und einen Topf zum Kochen. Heute sitzt dieser Mann vor dem Beamten vom Migrationsamt und erzählt ihm, trotz dessen Bitte, doch etwas langsamer zu reden, seltsam hastig seine Geschichte:

      Sie haben mir gesagt, sie hätten mich an eine andere Gruppe verkauft. Sie waren ganz ausgelassen. Die ganze Nacht haben sie Whisky getrunken und herumgelacht. Sie haben mich sogar aufgefordert, mit ihnen zu trinken. Ich habe dankend abgelehnt und ihnen erklärt, ich sei praktizierender Muslim und hielte mich an die Vorschriften. Sie kauften mir neue Kleider, kochten mir zum Abendessen ein Huhn und stellten mir Früchte und Süßigkeiten hin. Offenbar hatten sie einen guten Preis für mich erzielt. Als sich der einäugige Führer der Gruppe von mir verabschiedete, vergoss er echte Tränen und umarmte mich wie einen Bruder: »Du bist ein anständiger Mann«, brachte er hervor, »ich wünsche dir alles Gute und ein erfolgreiches Leben.«

      Ich glaube, bei dieser ersten Gruppe war ich nur drei Monate. Sie hatten mich in einer kalten, unheilvollen Nacht zu Beginn des Winters 2006 entführt. Wir hatten Anweisung erhalten, zum Tigris zu fahren, zum ersten Mal direkt vom Chef der Notfallabteilung im Krankenhaus. Am Ufer des Tigris standen Polizisten um sechs enthauptete Leichen. Die Köpfe hatte man in einen leeren Mehlsack gesteckt, der neben den Leichen stand. Die Polizisten vermuteten, es handle sich um religiöse Würdenträger. Wegen heftigen Regens hatten wir etwas länger gebraucht. Die Polizisten stapelten die Leichen in den Ambulanzwagen, den mein Kollege Abu Sâlim fuhr. Ich lud den Sack mit den Köpfen in mein Auto. Die Straßen waren leer, und die gespenstische nächtliche Stille Bagdads wurde nur von fernem Gewehrfeuer und dem Getöse eines amerikanischen Hubschraubers zerrissen, der über der Grünen Zone schwebte. Wir fuhren die Abu-Nuwâs-Straße entlang zur Raschîd-Straße, wegen des Regens nur mit mäßiger Geschwindigkeit. Beim Transport eines Verwundeten oder eines Todkranken ist die Geschwindigkeit des Ambulanzfahrzeugs ein Hinweis auf menschliches Verantwortungsbewusstsein. »Wenn man abgeschnittene Köpfe in einem Krankenwagen geladen hat, ist eigentlich nicht mehr als die Geschwindigkeit eines Maultierkarrens in einem finsteren Wald im Mittelalter vonnöten.« Das jedenfalls hörte man ständig vom Chef der Notfalleinheit im Krankenhaus, einem Mann, der sich selbst für einen Philosophen und einen Künstler hielt, aber, in seinen eigenen Worten, einfach im falschen Land geboren war. Trotzdem respektierte er seine Arbeit und hielt sie für die Erfüllung einer heiligen Pflicht. Die Abteilung für Ambulanzfahrzeuge in der Notfallabteilung zu leiten, hieß für ihn, Herr über die Trennlinie zwischen Leben und Tod zu sein. Bei uns hieß er immer »der Prof«, meine Kollegen mochten ihn überhaupt nicht und nannten ihn durchgeknallt. Ich wusste, woher diese Ablehnung kam. Seine unverständliche und aggressive Art zu reden machte ihn in den Augen anderer zu einem nicht ganz normalen Menschen. Doch ich hegte für ihn viel Respekt und Sympathie, weil ich seine Formulierungen faszinierend fand. Einmal sagte er: »Vergossenes Blut und dummes Gewäsch sind die Wurzeln der Welt. Wegen Brot, Liebe oder Macht zu töten, ist nicht dem Menschen vorbehalten. Auch die Tiere im Dschungel tun das auf verschiedene Art. Doch der Mensch ist das einzige Lebewesen, das um des Glaubens willen tötet.« Im Allgemeinen schloss er seine Äußerungen mit einem theatralischen Satz und wies dabei mit der Hand gen Himmel: »Das Problem des Menschen lässt sich nur durch permanente Angst lösen.« Mein Kollege Abu Sâlim war überzeugt, dass der Prof mit seinen gewalttätigen Äußerungen Verbindung zu terroristischen Gruppierungen haben müsse. Doch ich habe ihn, und zwar aus tiefster Überzeugung, immer verteidigt. Diese dämlichen Ambulanzfahrer verstanden eben nicht, dass er ein Philosoph war, der nicht wie sie den ganzen Tag nur dümmliche Witze riss. Ich prägte mir jeden seiner Sätze, jedes seiner Worte ein, gefangen von Freundschaft und Bewunderung.

      Doch kehren wir zu jener Nacht zurück. Als wir Richtung Märtyrerbrücke abbogen, bemerkte ich, dass der von Abu Sâlim gelenkte Krankenwagen verschwunden war. Dann tauchte im Außenrückspiegel ein Polizeifahrzeug auf, das mich mit hoher Geschwindigkeit einholte und mitten auf der Brücke zum Halten zwang. Ihm entstiegen vier vermummte Männer in Uniformen der Sonderpolizeieinheiten, deren Anführer mir, die Pistole auf mein Gesicht gerichtet, auszusteigen befahl. Inzwischen zogen seine Kollegen den Sack mit den Köpfen aus dem Ambulanzfahrzeug.

      Jetzt wurde ich entführt, und sie würden mir den Kopf abschneiden. Das war mein erster Gedanke, während sie mich fesselten und in den Kofferraum des Polizeiautos warfen. Doch es dauerte nur zehn Minuten, bis ich herausfand, was sie wirklich mit mir vorhatten. In dem dunklen Kofferraum sprach ich drei Mal den Thronvers. Ich hatte das Gefühl, meine Haut werde rissig. Aus irgendeinem Grund dachte ich in diesen finsteren Augenblicken an mein Körpergewicht. Um die siebzig Kilogramm. Wenn das Auto langsamer wurde oder abbog, wuchs meine Angst, wenn es dann wieder an Geschwindigkeit zulegte, durchzog mich ein seltsames Gefühl, eine Mischung aus Ruhe und Verunsicherung. Vielleicht dachte ich da ja an das, was der Prof über das Verhältnis von Geschwindigkeit und Tod gesagt hatte. Ich hatte nie recht verstanden, was er genau damit meinte. »Jemand, der im Wald stirbt, spürt die Angst schärfer als jemand, der in einem dahinrasenden Ambulanzfahrzeug umkommt«, sagte er immer. »Ersterer hat nämlich das Gefühl, mit der Zeit allein gelassen zu sein, während Letzterer wähnt, jemand sei mit ihm solidarisch. Gewiss ist das die Illusion von der Flucht in die Gegenrichtung.« Ich erinnere mich auch, dass er lächelnd erklärte: »Ich wünsche mir, meine letzten Züge in einem Raumschiff in Lichtgeschwindigkeit zu tun.«

      Plötzlich sah ich, vor mir aufgehäuft, all die unbekannten und verstümmelten Leichen, die ich seit dem Fall von Bagdad in meinem Krankenwagen transportiert hatte. Dann stand in der Dunkelheit, die mich einhüllte, der Prof vor mir: Er zog meinen abgeschlagenen Kopf aus einem Müllhaufen, während meine Kollegen zotig über meine Sympathie für diesen Mann witzelten. Das Polizeiauto war noch nicht weit gefahren, als es anhielt. Sicher hatten wir die Stadt noch nicht hinter uns gelassen. Ich versuchte, mich an die

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