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Der Verrückte vom Freiheitsplatz. Hassan Blasim
Читать онлайн.Название Der Verrückte vom Freiheitsplatz
Год выпуска 0
isbn 9783956140778
Автор произведения Hassan Blasim
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Hamîd al-Sajjid wäre berühmt geworden, wenn die Zeitungen zehn Jahre zuvor berichtet hätten, was ihm in der Uniformenschneiderei geschehen war, die dem Amt für Militärproduktion unterstellt war. Doch damals verdunkelten alle betroffenen Stellen die Vorkommnisse, und jede Seite hatte einen Grund dafür. Die Regierung des Diktators betrachtete alles außerhalb der großen nationalen Fragen als bedeutungslos und trivial. Und es galt nicht als nützlich, dass sich das Volk für Dinge und Fragen interessierte, die vom wahren Kampf gegen die Mächte des niederträchtigen Kolonialismus und des Zionismus ablenkten, besonders wenn man im Kampf gegen den brutalen Wirtschaftsboykott stand, den die Vereinten Nationen nach dem zweiten Golfkrieg verordnet hatten. Auch Hamîds Familie verhielt sich stumm, zunächst aus Furcht, dann aus Scheu. Die anderen Wölfe waren Hamîd al-Sajjids Spur während der vergangenen zehn Jahre gefolgt, und als seine ältere Schwester seinen Leichnam zu Gesicht bekam, wusste sie sofort, wer ihren Bruder ermordet hatte. Die drei abgeschnittenen Finger waren ein Hinweis auf die Identität des Mörders.
Die Geschichte begann im Jahr 1996 in der Karâma-Schneiderei, wo Uniformen hergestellt wurden. In einem Raum dort stießen die Inspektoren der Vereinten Nationen auf Hamîd und ein totes Mädchen. Die eigentliche Geschichte hatte am letzten Tag vor den unheilvollen Ferien der Werkstatt begonnen. Vielleicht hatte sich Gott ja direkt in die Ereignisse jenes Tages eingeschaltet, oder das, was geschah, war Machwerk der Satane aus dem Reich des Zufalls. Vielleicht war aber alles bloß das schmutzige Wirken von Menschen.
Eine freundliche, kleine, aber vorsichtige Geste: Fâtin zwinkert einem Soldaten zu, der, mit einem Packen Papier beladen, verängstigt und besorgt vorbeigeht. Dann beugt sie sich wieder über ihre Nähmaschine, um auf die Tasche einer Soldatenhose ein militärisches Abzeichen in Form eines roten Dreiecks zu nähen. Kurz darauf kommt der Soldat, Hamîd al-Sajjid, zurück. Er durchquert die Halle der Schneiderinnen in der Mitte zu der kleinen Eisentreppe, die zum zweiten Stock hinaufführt. Doch dieses Mal erhält er von Fâtin kein Zwinkern, denn die Augen aller sind scharf wie Kameralinsen. Ein Fehler in einer Werkstatt wie dieser kann teuer zu stehen kommen. Das war der kleine Krieg des Hamîd al-Sajjid. In seinem Büro stellte er die Rechnungen für die Werkstatt aus und lauschte dem Geräusch der Nadeln an den Nähmaschinen. Er war in Fâtin verliebt oder »tödlich verliebt«, wie er seiner Lieblingsschwester Sâhira erzählte. Doch bisher hatte er noch keinen geeigneten Weg gefunden, um sie außerhalb der Werkstatt zu sehen. Hamîd lebte in einem einfachen Viertel auf der Russâfa-Seite von Bagdad, Fâtin zusammen mit ihren drei Brüdern und deren Ehefrauen weit weg im Polizeiviertel. Sie dürfte etwa zweiundzwanzig Jahre alt gewesen sein, und ich bin nicht sicher, ob sie die einzige Unverheiratete in der Werkstatt war. Sainab behauptete, es gebe in der Werkstatt wohl nur etwa fünf noch nicht Verheiratete. Übrigens hatte der Inhaber der Werkstatt vorgeschlagen, diese in Führer-Uniform-Schneiderei umzubenennen. Er hatte sich diesbezüglich schriftlich an das Amt für Militärproduktion gewandt. Die Karâma-Fabrik sollte ab dem nächsten Tag für zwei Wochen urlaubshalber schließen, eine Gunst, so erzählte man den Arbeiterinnen, seitens seiner Exzellenz, des Herrn Ministers. Für Hamîd wären diese Urlaubstage grässlich und lang wie ein Jahrhundert gewesen. Fâtin erinnerte ihn in ihren Briefchen immer wieder an ihre Brüder, wenn er versucht hatte, sie zu einem Rendezvous außerhalb der Fabrikmauern zu überreden: Hamîd, wenn meine Brüder davon Wind bekommen, schlachten sie mich ab wie eine Henne. Du bist wahnsinnig. Ich gehe nicht einmal an die Haustür. Hamîd wusste nicht, wie er diese Ferien ohne Fâtins Lächeln ertragen sollte, das er jeden Tag mit sich nach Hause nahm und lange Stunden betrachtete und dann küsste. Danach schlief er ein.
An jenem Tag hatte der Direktor der Werkstatt telefonisch nach Abu Fâdil verlangt. Dieser hatte rasch die Zeitung, auf der er seine Mahlzeit, Auberginen und Zwiebeln, zu sich nahm, zusammengefaltet und sich den Mund mit dem Ärmel abgewischt. Ein Mann Ende fünfzig, der so furchterregend hager war, dass er gerade dem Grab entstiegen zu sein schien. Er war Herr über den »ersten Schlüssel«, auf den sich der Verdacht richtete. Niemand hatte Abu Fâdil, den Türhüter der Werkstatt, je mit einer anderen als einer grauen Stoffhose gesehen. Seine aschgraue und zu weite Uniform sah so elend aus wie die alten Stadtteiltore. Abu Fâdil kannte die Namen aller Frauen, die in der Werkstatt arbeiteten. Das war eine bemerkenswerte Leistung. Die Namen der Soldaten waren leicht zu behalten. Es gab in der Werkstatt nur sieben davon. Außer dem Direktor, Oberst Sahrân, und dem Türhüter Abu Fâdil waren das: Hamîd und Rachmân bei der Buchführung und Sâdik und Umar, die beiden Lkw-Verantwortlichen, die am Hinterausgang des Gebäudes die fertigen Uniformen in Empfang nahmen. Dann gab es noch Unteroffizier Dschâssim Chudair samt seinen beiden Assistenten Chalaf und Marwân. Dieser Unteroffizier war verantwortlich für die Instandhaltung der Nähmaschinen. Die restlichen Angelegenheiten lagen in der Hand von Arbeiterinnen. Doch Oberst Sahrân war der einzige Mann in der Fabrik, der die Frauen die ganze Zeit betrachten konnte. Er saß in einem Zimmer mit Glaswänden im ersten Stock und mit Blick direkt auf die Produktionshalle. Im zweiten Stock befanden sich das Buchführungszimmer und drei weitere kleine Räume, in denen Nähbedarf gelagert war, daneben die Treppe, die hinunterführte. Die Fabrik war klein, aber produktiv, spezialisiert ausschließlich auf die Herstellung von Uniformen für hohe Offiziere. Heute liegt das Gebäude in Trümmern, zerbombt von amerikanischen Flugzeugen noch vor der Besetzung Bagdads.
Im Zimmer des Direktors erklomm Abu Fâdil einen Stuhl, um das Bild des Präsidenten von der Wand hinter dem Schreibtisch zu nehmen. Der Oberst gab ihm ein neues Bild desselben Präsidenten. Auf dem alten trägt der Präsident arabische Kleidung, auf dem neuen eine Uniform. Der Oberst dankte Abu Fâdil. Dann holte er aus einer Schreibtischschublade einen Bund Schlüssel, löste einen kleinen daraus und gab ihn Abu Fâdil, der ihn mit einer ehrerbietigen Verbeugung entgegennahm und an seine Schlüsselkette hängte und danach den Raum verließ.
Würden wir jetzt hinaus in die Arbeitshalle der Schneiderinnen gehen, könnten wir den »zweiten Schlüssel«, denjenigen von Sabrîja, der verantwortlichen Aufseherin über die Schneiderinnen, sehen. Sabrîja schritt unablässig zwischen den Nähmaschinen umher und spielte dabei mit dem Schlüsselring. Gleichzeitig beobachtete sie jegliche Bewegung in der Werkstatt. Niemand konnte diese »fruchtlos-trockene Sabrîja«, wie die Mädchen ihre Aufseherin nannten, leiden. Ohne ihr langes, schwarzes Haar hätte nichts darauf hingedeutet, dass sie eine Frau war. Das jedenfalls war die Einschätzung des Soldaten Rachmân. Und es stimmte. Die Frau glich einem Schwergewichtsringer. Übrigens, Sabrîja und eine Minderheit unter den Mädchen trugen ihr Haar in der Werkstatt offen, die große Mehrheit trug ein Kopftuch und dunkelblaue Arbeitskleidung. Sabrîja gehörte zur Generation der Siebzigerjahre und hatte sich noch nicht mit der Rückkehr des Kopftuchs und dem Bedeutungsgewinn des Religiösen abgefunden. Doch sie war auf widerliche Art eifersüchtig und neidisch. Sie beobachtete jede Bewegung, jedes Lachen, jedes Tuscheln der Mädchen mit Argusaugen.
Im zweiten Stock würden wir auf den »dritten Schlüssel« stoßen, denjenigen des Soldaten Rachmân. Doch seine Rolle verstehen wir nicht ganz. Vielleicht war es ja einfach ein privater Schlüssel. Rachmân arbeitete mit Hamîd al-Sajjid im Buchführungsbüro zusammen. Hamîd fürchtete die Zunge Rachmâns, dem durchaus einmal ein Wort über seine Beziehung zu Fâtin entschlüpfen könnte. Vor dem Gefängnis hatte Hamîd keine große Angst, was ihn aber beunruhigte, war die Furcht davor, der Fabrikdirektor, Oberst Sahrân, der Hamîd für einen vorbildlichen, aufrechten Soldaten und einen anständigen Menschen hielt, könnte ein schlechtes Bild von ihm bekommen. Schon einmal hatte der Oberst Hamîd geraten, er solle ernsthaft über das Heiraten nachdenken und damit »seine Religion vollenden«. Er forderte ihn auch auf, ab sofort der Pflicht des Gebets nachzukommen und sich Gott zuzuwenden. Diese Welt sei vergänglich. Hamîd verschaffte sich das Schweigen seines Kollegen, indem er ein Auge zudrückte, wenn jener jede halbe Stunde aufs Klo ging. Rachmân nutzte die Tatsache,