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Internationales Privatrecht. Thomas Rauscher
Читать онлайн.Название Internationales Privatrecht
Год выпуска 0
isbn 9783811492448
Автор произведения Thomas Rauscher
Жанр Учебная литература
Серия Schwerpunktbereich
Издательство Bookwire
279
Die Prüfung einer sozialen und familiären Integration wird insbesondere in Fällen von Kindesentführung durch einen Elternteil oder Verwandten (sog legal kidnapping) bedeutsam. Verbringt ein Elternteil das Kind gegen den Willen des anderen (allein oder mit-) sorgeberechtigten Elternteils in ein anderes Land (oft sein Heimatland), so schließt der entgegenstehende Wille eines Sorgeberechtigten nicht die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts aus. Andererseits kann der gewöhnliche Aufenthalt am neuen schlichten Aufenthaltsort nicht sofort begründet werden, weil die Dauerhaftigkeit der Eingliederung, anders als etwa beim Umzug des Kindes mit beiden Eltern, wegen des entgegenstehenden Willens des Sorgeberechtigten nicht von vornherein feststeht.[48] Andererseits ist die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts gerade in solchen Fällen oft entscheidend, weil vom Bestehen des gewöhnlichen Aufenthalts die internationale Zuständigkeit aus Art. 5 KSÜ, Art. 1 MSA oder Art. 8 Brüssel IIa-VO abhängt (vgl aber Rn 281).
280
Die Integration eines Kindes hängt stark von seinem Alter ab; sie ist im frühkindlichen Stadium weitestgehend familienorientiert, weshalb es zwar nicht zu einer rechtlichen Ableitung vom Sorgeberechtigten kommt, aber zu einer faktischen Berücksichtigung des gewöhnlichen Aufenthalts des betreuenden Elternteils.[49] Später kommen soziale Außenbeziehungen (Kindergarten, Schule) hinzu.[50] In der Rechtsprechung wurde bisher in „Entführungsfällen“ sowie in Fällen einer sonst zwischen den Sorgeberechtigten strittigen Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts eine konkrete soziale Eingliederung angenommen, wenn der Minderjährige am neuen Aufenthaltsort seit mindestens sechs Monaten (als „Faustregel“)[51] normal integriert lebt, also etwa Schule oder Kindergarten besucht oder als Kleinkind im Familienverband mit einem Elternteil und/oder sonstigen Verwandten lebt, ohne dass der andere Elternteil konkrete Schritte zur Rückführung unternimmt. Selbst wenn der Aufenthalt des Kindes durch den allein Sorgeberechtigten verlegt wird, dürfte nicht sogleich die für den Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts erforderliche Integration eintreten; bei einem Kleinstkind, das bei der bisherigen engsten Bezugsperson bleibt, die in ihr Heimatland zurückkehrt, wo diese selbst stark integriert ist, wird jedoch sehr bald ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt anzunehmen sein.[52]
281
Um den Übergang der Zuständigkeit zu verzögern, treffen Art. 7 Abs. 1 KSÜ und Art. 10 lit. b Brüssel IIa-VO in „Entführungsfällen“ Sonderregelungen zur Fortdauer der Zuständigkeit der Gerichte des Staates, aus dem das Kind entführt wurde. Obgleich diese Regelungen so formuliert sind, dass trotz Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts die Zuständigkeit fortbesteht, wirft die dort normierte Jahresfrist die Frage auf, in welchem Verhältnis die Jahresfrist zur „Faustregel“ eines mindestens 6-monatigen Aufenthalts steht.
282
dd) Einen wesentlichen Schritt zur Rückführung entführter Kinder hat das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung v. 25.10.1980[53] bewirkt (HKiEntÜ; Rn 983 ff). Zwischen den Mitgliedstaaten wird der Vorrang der Entscheidung der Gerichte des Staates, aus dem das Kind entführt wurde, durch Art. 11 Brüssel IIa-VO gegenüber dem HKiEntÜ verstärkt. Weitere Änderungen sind in Art. 22 ff des Vorschlags einer Brüssel IIb-VO geplant.[54]
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c) Vom Wohnsitz nach deutschem Recht unterscheidet sich der gewöhnliche Aufenthalt in drei Kriterien: Der Wohnsitz wird im Regelfall willentlich begründet (§ 7 Abs. 1 BGB: „niederlässt“; deutlich § 8 Abs. 1 BGB) und aufgehoben (anders aber § 9 BGB). Der Wohnsitz von Minderjährigen wird von dem der Eltern abgeleitet (§ 11 BGB). Ein Wohnsitz kann an mehreren Orten bestehen. Der gewöhnliche Aufenthalt ist hingegen nicht willensabhängig, wird unabhängig von der Geschäftsfähigkeit nach den Lebensumständen der betroffenen Person bestimmt und kann nicht mehrfach sein. Gemeinsam haben beide Konzepte, dass sie einen (faktischen bzw gewillkürten) Daseinsmittelpunkt erfordern,[55] weshalb eine Person ohne Daseinsmittelpunkt weder einen gewöhnlichen Aufenthalt noch einen Wohnsitz hat.
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d) Vom domicile des Common Law Rechtskreises, das dort die Staatsangehörigkeit als das primäre Anknüpfungskriterium für das Personalstatut ersetzt, ist der gewöhnliche Aufenthalt ebenfalls zu unterscheiden.
285
Die Bedeutung des domicile in den Common Law Staaten als räumliches Anknüpfungskriterium anstelle der auf dem europäischen Kontinent bevorzugten Staatsangehörigkeit erstreckt sich auf personen-, familien- und erbrechtliche Beziehungen. Dabei sind jeweils Rechte an unbeweglichen Sachen ausgenommen; sie werden dem Belegenheitsrecht unterstellt. Historisch geht dies zurück auf Joseph Story, der – wie übrigens auch noch v. Savigny (der an das Domizil anknüpfte, Rn 34) – den Schwerpunkt solcher Rechtsverhältnisse vorzugsweise räumlich bestimmte. Der rechtspolitische Grund für die Bevorzung des domicile als Anknüpfungskriterium besteht wohl darin, dass England als Seefahrernation sich kollisionsrechtlich mit dem Faktum der Auswanderung und Niederlassung von Staatsangehörigen in fremden Ländern zu befassen hatte. Noch stärker sind in den USA, in Kanada und in Australien die Argumente für eine räumliche statt einer staatsangehörigkeitsbezogenen Anknüpfung: Als Einwanderungsstaaten war diesen Ländern zunächst an schneller Integration großer Zahlen von Zuwanderern gelegen; die Gerichte sollten nicht mit der Ermittlung und Anwendung ausländischen Rechts belastet werden, eine sofortige Einbürgerung kam naturgemäß aber nicht in Betracht. Zudem handelt es sich um Mehrrechtsstaaten; Staatsangehörigkeit aber ist ein ungeeignetes Kriterium, wenn zwischen den Familienrechtsordnungen mehrerer Bundesstaaten (eines Gesamtstaates) zu entscheiden ist.
286
Der Begriff des „domicile“[56] wird nicht in allen Staaten des Common Law-Rechtskreises vollständig gleich verstanden. Gemeinsam sind jedoch die folgenden Grundsätze: Jeder Mensch hat ein und nur ein domicile, das nicht an einem Ort, sondern in einem Gebiet einheitlicher Jurisdiktion (England, Florida, New South Wales, Ontario etc) besteht. Das erste domicile, sein domicile of origin, erwirbt ein Mensch durch Geburt als abgleitetes domicile von den Eltern (früher Vater). Ein Wechsel des domicile – hin zu einem domicile of choice – setzt zwei Kriterien voraus: Persönliche Anwesenheit (physical presence) und das Willenselement (mental attitude), dort für unbestimmte Zeit (for indefinite future time) zu bleiben.
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Der bekannteste Unterschied zwischen dem englischen und dem US-amerikanischen domicile-Begriff besteht in der sog revival doctrine, der das englische Recht im Gegensatz zum US-Recht folgt und die ein klassisches Produkt englischer Seefahrertradition ist: Verlässt eine Person ihr domicile (einerlei ob domicile of origin oder choice) mit dem Willen, es für immer (unbestimmte Zeit: intention to remain forever) aufzugeben, so verliert sie es. Vor Ankunft am Ziel kann dort kein neues domicile begründet werden, denn es fehlt an der physical presence. Treten während der Reise Rechtsfragen auf – zB löst der Tod des Reisenden den Erbfall aus – so kann er nicht ohne domicile sein. Um die (bei Seereisen bis tief in das 20. Jahrhundert oft beträchtliche Zeit andauernde) Lücke