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Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen. Annabel Herzog
Читать онлайн.Название Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen
Год выпуска 0
isbn 9783846353493
Автор произведения Annabel Herzog
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Bezüglich der somatischen Komorbidität bei somatischen Belastungsstörungen lassen sich bisher keine gesicherten Angaben machen. Da die Diagnosen in DSM-5 und ICD-11 erst 2013 bzw. 2018 veröffentlicht wurden, gibt es bisher noch keine ausreichende Datenbasis für die Schätzung von Komorbiditätsraten. Aus dem Bereich der somatoformen Störungen lassen sich Ergebnisse nur schwer übertragen, weil diese noch auf dem Prinzip der „Ausschlussdiagnostik“ organischer Erkrankungen beruhen.
Es sei an dieser Stelle außerdem angemerkt, dass die Zuverlässigkeit der von Patientinnen und Patienten selbst angegeben Diagnosen bezogen auf ihre aktuellen Beschwerden wie auch von Erkrankungen in der Vorgeschichte kaum untersucht ist.
Einer ersten kleineren Studie mit Patientinnen und Patienten aus der Neurologie zufolge, konnten nur 22 % der angegebenen früheren Vorerkrankungen bestätigt werden, wenn die Patienten an „unerklärten Beschwerden“ litten, aber 80 %, wenn die Beschwerden tatsächlich organmedizinisch erklärt werden konnten (Schrag et al. 2004).
Möglicherweise sind also eigenanamnestische Angaben von Patientinnen und Patienten mit „unerklärten Körperbeschwerden“ eher unpräzise.
körperliche und psychische Belastungen erfragen
Die aktuelle AWMF-Leitlinie zum Umgang mit Patienten mit nichtspezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden“ (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2018) empfehlen Behandlerinnen und Behandlern daher, während der Anamnese immer auch gegenüber versteckten Hinweisen auf körperlich oder psychisch wirkende Belastungen aufmerksam zu sein und gegebenenfalls aktiv nachzufragen (Müller et al. 2000; Salmon et al. 2004; Epstein et al. 2006). Damit gilt es nicht zuletzt zu vermeiden, dass komorbide psychische Erkrankungen übersehen werden und Fehldiagnosen gestellt werden, die zu weiteren Belastungen und gefährlichen Krankheitsverläufen führen können (Kouyanou et al. 1997; Page / Wessely 2003).
2.2.4 Suizidalität bei somatoformen und funktionellen Körperbeschwerden
Vor allem bei Patientinnen und Patienten mit einer schwereren Belastung durch funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden sollte ein erhöhtes Suizidrisiko beachtet werden. Lange Zeit wurde das Risiko dieser Patientinnen und Patienten für Suizidgedanken und eine latente oder manifeste Suizidalität eher unterschätzt.
Aktuelle Studienergebnisse belegen aber, dass bei etwa 50 % der Patientinnen und Patienten passive Todeswünsche vorkommen, konkrete Suizidgendanken bei rund einem Drittel und sogar 13-18 % der Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen einen früheren Suizidversuch berichten (Wiborg et al. 2013; Kämpfer et al. 2016; Guipponi et al. 2017).
Risikofaktoren für Suizidalität
Als spezifische Risikofaktoren gelten dabei eine lange Beschwerdedauer, eine hohe Beschwerdeintensität, eine hohe Belastung durch die Beschwerden und die Art und Anzahl der Beschwerden und Komorbiditäten, wobei Patientinnen und Patienten mit depressiven Begleiterkrankungen besonders gefährdet sind (Wiborg et al. 2013). Auch Einschlafstörung und ein Katastrophisieren der Symptome gelten als Risikofaktoren (Tang / Crane 2006). Am besten untersucht ist der Zusammenhang zwischen Suizidalität und chronischen Schmerzen. Diese stellen für sich genommen einen Risikofaktor für Suizidalität dar (Fishbain 1999; Ilgen et al. 2010). Neben diesen spezifischen Risikofaktoren gelten selbstverständlich auch bei funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden die allgemeinen Risikofaktoren für Suizidalität. Dazu gehören weibliches Geschlecht, eine schwere Depression, Hoffnungslosigkeit, Konkretheit der suizidalen Vorstellungen, Vorbereitungen zur Suizidhandlung, ein vorangehender Suizidversuch, Suchtverhalten sowie Suizidalität in der Familienanamnese (Fishbain et al. 2009; Tang / Crane 2006; Smith et al. 2004).
Grundsätzlich sollte bei allen Patientinnen und Patienten mit somatoformen oder spezifischen funktionellen Syndromen immer eine mögliche Suizidalität im Rahmen ärztlicher / therapeutischer Konsultationen beachtet werden.
Retrospektive Daten von n=29 Patientinnen und Patienten mit Somatisierungsstörung (diagnostiziert nach strukturiertem klinischen Interview für DSM-IV (SKID-I); Kap. 5) aus einer psychiatrischen Ambulanz in Norwegen zeigten bei 28 % eigenanamnestischen Angaben zufolge einen Suizidversuch in der Vergangenheit. Bei n=91 Patientinnen und Patienten ohne somatoforme Diagnose lag diese Rate bei 11 %, und zwar auch nach Kontrolle für depressive Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen (Chioqueta / Stiles 2004). In einer amerikanischen Studie aus einer psychiatrischen Praxis, die n=54 Patientinnen und Patienten mit Somatisierungsstörung (diagnostiziert nach DSM-III-Kriterien) und sekundärer Depression im Vergleich mit n=29 Patientinnen und Patienten mit primärer Depression verglich, fanden sich bezogen auf die Lebenszeit bei 83 % versus 59 % passive Suizidgedanken, bei 80 % versus 55 % aktive Suizidgedanken und bei 65 % versus 31 % Suizidversuche. Multiple Suizidversuche lagen dabei bei 41 % der Patientinnen und Patienten mit Somatisierungsstörung und lediglich 3 % der Patientinnen und Patienten mit primärer Depression vor (Morrison / Herbstein 1988).
Bevölkerungsbasierte Studien belegen auch bei Fibromyalgie ein erhöhtes Risiko für Suizidgedanken, -versuche und tatsächlich vollzogene Suizide (Calati et al. 2015; Lan et al. 2016). Zwei prospektive Kohortenstudien konnten zeigen, dass die somatische Mortalität bei Patientinnen und Patienten mit Fibromyalgie nicht erhöht ist, jedoch die Suizidrate. Im Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung war bei Fibromyalgie die Odds Ratio (OR, Chancenverhältnis) für die altersstandardisierte Suizidmortalität erhöht; hier finden sich Zahlen aus Dänemark (n=1361; OR=10,5; 95 % CI: 4,5–20,7; Dreyer et al. 2010), und den USA (n=8186; OR=3,31; 95 % CI: 2,15–5,11; Wolfe et al. 2011).
Im Bereich Chronic Fatigue Syndrome lassen sich ähnliche Ergebnisse finden. Bei n=166 Verstorbenen mit der Diagnose eines Chronic Fatigue Syndrome in der Vorgeschichte wurde neben den Todesursachen Herzversagen (20 %) und Krebs (19 %) als häufige Todesursache auch der Suizid mit 20 % beschrieben (Jason et al. 2006). In einer Follow-up-Erhebung von bis zu 14 Jahren erhöhte eine gleichzeitig vorliegende Major Depression die Suizidrate bei Chronic Fatigue Syndrome signifikant (Smith et al. 2006).
Beim Reizdarmsyndrom besteht ebenfalls ein erhöhtes Risiko für Suizidalität, wobei dieses teilweise etwas geringer ist als bei anderen chronischen abdominellen Schmerzen (Spiegel et al. 2007). In einer retrospektiven Kohortenstudie aus Großbritannien, in der Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom mit Patientinnen und Patienten mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung verglichen wurden, fanden sich jedoch bezogen auf die Lebenszeit bei insgesamt 19 % der Patientinnen und Patienten mit Reizdarm im Vergleich zu 15 % der Patientinnen und Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen aktive Suizidgedanken. Suizidversuche berichteten insgesamt 2 % aller Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom und 1 % der Patientinnen und Patienten mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung (Miller et al. 2004).
mögliche Erklärungen erhöhter Suizidalität
Als mögliche Erklärungen der Suizidalität lassen sich vor allem eine beschriebene Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit bezüglich der Symptomatik nennen, aber auch der Wunsch, den Symptomen zu entkommen, sowie ein dysfunktionales Problemlöseverhalten, wie z. B. Vermeidungstendenzen (Miller et al. 2004, Tang / Crane 2006).
Generell sucht die Mehrzahl der Patientinnen und Patienten vor einem Suizid Kontakt zum Gesundheitssystem (Luoma et al. 2002). Um diese gefährlichste Komplikation also auch bei somatoformen und funktionellen Körperbeschwerden nicht