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Geschichte im politischen Raum. Hilmar Sack
Читать онлайн.Название Geschichte im politischen Raum
Год выпуска 0
isbn 9783846346198
Автор произведения Hilmar Sack
Жанр Документальная литература
Серия Public History - Geschichte in der Praxis
Издательство Bookwire
Welche Rolle spielt dabei der Staat mit seinen Institutionen und Repräsentanten? Er greift einerseits mit seiner Gedenkpolitik aktiv ein, andererseits bündeln sich in den quasi staatlich sanktionierten Geschichtsbildern die gesellschaftlich mehrheitsfähigen Deutungen. Derart kulturell gestiftetes Erinnern tritt zwangsläufig in Konkurrenz zu den privaten Erinnerungen, die in Familien über Generationen weitergegeben werden. Nach Einschätzung von Aleida AssmannAssmann, Aleida (2006, 4) entwickeln sich in vielen Gesellschaften Zweigleisigkeiten zwischen einem offiziellen und einem inoffiziellen GedächtnisGedächtnis: „Unter den monumentalen Deklamationen und Zeichensetzungen des Staates erhält sich das Netz eines sozialen Gedächtnisses, das eine kognitive Dissonanz produziert, damit aber auch eine kritische Distanz zur offiziell verordneten Gegenwartsdeutung ermöglicht.“ Neben den großen nationalen und heute nicht selten europäischen Narrativen eines verordneten offiziellen Gedächtnisses, in dem den ‚alten‘ Institutionen des Kulturbetriebs eine Vermittlerrolle zukommen, existieren – neben den ganz privaten – zahlreiche weitere, für die Alltagswelt der Menschen dabei oftmals drängendere und anschlussfähigere Erinnerungsbezüge. In diesem Kontext werden Gefühle als die eigentlichen Konservatoren der Erinnerung relevant. Jede Erfahrung transportiert und überträgt sich demnach durch Gefühle, die ihrerseits die Erfahrung im Gedächtnis bewahren. Sie verknüpfen Vergangenheit und ZukunftZukunft, indem sie Erfahrungen und Erinnerungen in Erwartungen überführen – angstvolle oder auch optimistische (Frevert 2000, 102).
Vor und nach der Jahrtausendwende erlebte Deutschland eine „emotionale Schleusenöffnung“ (Seitz 2006). Lange verschüttete und neue Themen von hoher Sprengkraft bestimmten die Debatten: Deutsche als Opfer von FluchtFlucht und Vertreibung, Vertreibung und alliiertem Luftkrieg, aber auch DDRDDR-Nostalgiewellen unterliefen die üblichen Prämissen des Gedenkens, die auf rationale AufarbeitungVergangenheitsbewältigung der doppelten Diktaturgeschichte zielen. Parallel dazu führte 2002 der Schriftsteller Martin WalserWalser, MartinAffärenWalser einen Begriff in die Debatte ein, von dem Kritiker spitz sagen, er scheue die Definition wie Walser den intellektuellen Standpunkt (Cammann/Hacke/Schlak 2003, 12). Er hat trotzdem (oder gerade deshalb) in der Folge eine erstaunliche Karriere gemacht: das „GeschichtsgefühlGeschichtsgefühl“. Dolf SternbergerSternberger, Dolf (1987, 733) postulierte einst, Geschichte sei „leichenstarr“, und darum könne man Geschichte nicht „erleben“: „Fängt man an, Geschichte für das Erlebnis zuzubereiten, so löscht man ihre Geschichtlichkeit, hebt ihre unwiderrufliche Faktizität auf.“ Walser hingegen rückte gerade das emotionale Erlebnis ins Zentrum seines Vergangenheitsbezugs und verwies auf Grenzen einer bloß rational argumentierenden Identitätsstiftung: „Eine Zugehörigkeit muss man erleben, nicht definieren. Auch die Zugehörigkeit zu einem Geschichtlichen hat man nicht zuerst als Erkenntnis parat, sondern als Empfindung, als Gefühl. So kommt es wenigstens bei mir zu einem Geschichts-Gefühl. Frage sich jeder selbst, ob er, wenn er versucht, das Wort Nation zu definieren, nach dem Definieren mehr weiß als er vorher durch Empfindung wusste.“ (Walser 2002) Man könne durch Empfinden wissend werden, hielt Walser seinen Kritikern entgegen: „Wer als Intellektueller glaubt, er könne oder müsse gar über Nation gefühlsfrei denken, den darf man wohl mit allem Respekt einfältig nennen. Mein Geschichtsgefühl Deutschland betreffend ist der Bestand aller Erfahrungen, die ich mit Deutschland gemacht habe – mit dieser Nation.“ (ebd.) Ein Sturm der Entrüstung entlud sich über den Schriftsteller, auch weil Walser in seinem Plädoyer für ein „Geschichtsgefühl“ zwar von den Karolingern bis zu den Hohenzollern, vom Rhein bis zu den Alpen einige „historische Ströme“ benannte, die er „erleben“ könne, die dunklen Phasen der deutschen Geschichte aber aussparte. Walsers geschichtsgefühliger Einwurf wurde als Kampfansage an den Intellekt und die kritische Geschichtswissenschaft verstanden, als Angriff auf die Grundlagen des kulturell gestifteten kollektiven GedächtnissesGedächtniskollektives und unseren Umgang mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts (→ Kapitel 4, Infobox AffärenAffären). Die Frage, was angesichts erfahrener Gewalt erinnert und was vergessen werden soll, ist, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, so alt wie die Menschheit. Die Antwort darauf war allerdings lange eine andere als heute.
Weiterführende Literatur
Cammann/Hacke/Schlak 2003: Alexander Cammann/JensJens, Walter Hacke/Stephan Schlak (Hg.), GeschichtsgefühlGeschichtsgefühl. In: Ästhetik und Kommunikation. 34 (2003), H. 122/123.
Fröhlich/Heinrich 2004: Claudia Fröhlich/Horst-Alfred Heinrich, GeschichtspolitikGeschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten? (Stuttgart 2004).
SchmidSchmid, Harald 2009: Harald Schmid (Hg.), GeschichtspolitikGeschichtspolitik und kollektives GedächtnisGedächtniskollektives: ErinnerungskulturenErinnerungskultur in Theorie und Praxis (Göttingen 2009).
François u.a. 2013: Etienne François/Kornelia Konczal/Robert Traba/Stefan Troebst (Hg.), GeschichtspolitikGeschichtspolitik in EuropaEuropa seit 1989: Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich (Göttingen 2013).
WinklerWinkler, Heinrich August 2004: Heinrich August Winkler (Hg.), Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der GeschichtspolitikGeschichtspolitik in Deutschland (Göttingen 2004).
WolfrumWolfrum, Edgar 2001: Edgar Wolfrum, Geschichte als Waffe. Vom KaiserreichKaiserreich bis zur Wiedervereinigung (Göttingen 2001).
2.5 Kein Recht auf Vergessen? Und wo bleibt die Zukunft?
„Das Zukünftige nimmt ab, das Vergangene wächst an,
bis die Zukunft verbraucht und das Ganze vergangen ist.“
(AugustinusAugustinus, Bekenntnisse XI)
Das VergessenVergessen hat gegenwärtig keinen guten Leumund. Doch das war nicht immer so. „Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört“, schreibt Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich (1844–1900) in seiner für die Gedächtnisforschung inspirierenden Abhandlung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (Nietzsche 1893, 209). Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, „der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholtem Wiederkäuen leben sollte“ (ebd. 212). Das berühmte Philosophen-Fazit lautet deshalb: „Es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben“ (ebd.).
Erinnern und VergessenVergessen sind zwei Seiten der gleichen Medaille. NietzschesNietzsche, Friedrich Einwand antizipiert ein Unbehagen, das sich gegenüber dem dominierenden Erinnerungsimperativ zu regen beginnt: Gibt es nicht auch das Recht, vielleicht sogar die Notwendigkeit zu vergessen? Mit Blick auf zahlreiche historisch aufgeladene Konflikte formuliert Jan AssmannAssmann, Jan einen naheliegenden Gedankengang (ohne ihn sich gemein zu machen): „Allen wäre geholfen, wenn die Vergangenheit begraben, ein Schlussstrich gezogen und endlich eine gemeinsame Zukunft gefunden werden könnte. […] Die Vergangenheit hat uns im Griff, sie verengt unseren Blick für die Zukunft und beschränkt unsere Handlungsfreiheit. In solchen Fällen wäre mit Vergessen viel zu erreichen“ (Assmann 1999a, 25). Der Althistoriker Christian MeierMeier, Christian hat dazu unter dem Titel „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“ einen anregenden Essay vorgelegt (Meier 2010). Seine Untersuchung zum öffentlichen Umgang mit „schlimmer Vergangenheit“ bürstet das gegenwärtige Erinnerungsdogma gehörig gegen den Strich. Meier zeichnet nach, dass die Menschheit über Jahrtausende auf das Vergessen und gerade nicht das Erinnern setzte, um den gestörten Frieden untereinander wiederherzustellen.