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sie in Zeiten großer politischer Herausforderungen „Krisenbewältigungsressourcen“, auf die die Politik nicht verzichten könne. Münkler (2007, 171) betont vor allem das Motivationsvermögen mythischer Narrationen: „Die politische Kraft zu folgenreichen Entscheidungen und Entschlüssen, deren Umsetzung einen langen Atem erfordert, erwächst vor allem aus Erzählungen und Verheißungen und weniger aus einem sorgsamen Delibrieren des Für und Wider.“ Zu einfach sei es deshalb, Mythen nur als Ausdruck von Irrationalität zu begreifen. „Eher handelt es sich dabei um große Erzählungen, die nicht nur das kollektive GedächtnisGedächtniskollektives einer politischen Gemeinschaft speisen, sondern auch ihren Erwartungshorizont abstecken und so für die Orientierung und Perspektive sorgen“ (ebd. 172).

      Exkurs: Nationalmythen der Deutschen

      Nationen produzieren Mythen, sie bedürfen geradezu eines Gründungsmythos als gemeinschaftsstiftendes „emotionales Fundament“ (François/Schulze 1998; kritisch dazu Fischer u.a. 2015). „Es macht das Wesen eines Nationalmythos aus, dass es nicht bloß eine Erzählung von fernen geschichtlichen Ereignissen oder ein bedeutender literarischer Text ist, sondern zur Metanarration der politischen Weltwahrnehmung wird. Politische Mythen stellen eine Grammatik für die Versprachlichung des Politischen dar“ (Münkler 2007, 166). Auch die Deutschen verfügen über ein Arsenal an Geschichtsmythen, die vor allem im national gesinnten 19. Jahrhundert geprägt wurden und mit deren – teils fataler – früherer Wirkung der Historiker, der sich heute in den politischen Raum begibt, vertraut sein sollte (siehe Wülfing/Bruns/Parr 1991; Flacke 1998; Münkler 2009):

      Aus den Untiefen deutscher Mythenerzählungen ragt das Epos von Siegfried und dem Schatz der NibelungenNibelungensage heraus. Dem 19. Jahrhundert bot es reichen Stoff zur Heldenerzählung (siehe Heinzle 2013; Oberste 2008). Die Bedeutung der Nibelungensage als Steinbruch deutscher Mythenerzählung belegen zwei geschichtspolitisch verhängnisvolle Bilder: die Nibelungentreue und der Dolchstoß. Das Leitmotiv der Sage – die unerschütterliche Treue bis in den Untergang – begleitete Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst das Bündnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn. Reichskanzler Fürst von BülowBülow, Bernhard v. benutzte die Wendung erstmals 1909 in einer Reichstagsrede, später zählte sie zum Arsenal der Propaganda im Ersten WeltkriegErster Weltkrieg, als die Mittelmächte „in Nibelungentreue fest vereint“ dem Bündnis aus Großbritannien, Frankreich und Russland gegenüberstanden. Im NationalsozialismusNationalsozialismus erhielt das Treue-Motiv eine Umwidmung, nun meinte es die bedingungslose Gefolgschaft der Deutschen zu HitlerHitler, Adolf. Nicht minder nachhaltig hatte nach dem Ersten Weltkrieg die Legende vom DolchstoßDolchstoß gewirkt, die an die hinterhältige Ermordung Siegfrieds anknüpfte und statt der Treue den Verrat ins Zentrum rückte: So wie der Held der Sage durch einen Speerstich in den Rücken starb, sei 1918 das unbesiegt im Feld stehende Heer durch das Versagen an der Heimatfront quasi von hinten zur Strecke gebracht worden – eine Entlastungslüge der Militärs, um die Schuld an der Niederlage auf die zivilen Kräfte abzuwälzen. Den Aufbau einer demokratischen Nachkriegsordnung in der Weimarer RepublikWeimarer Republik untergrub die Dolchstoßlegende nachhaltig.

      Von besonderer Wirkmacht für den deutschen Nationalismus waren die Mythen um den Germanen ArminiusArminius/Hermann der Cherusker (= Hermann der CheruskerArminius/Hermann der Cherusker), der 9 n. Chr. im Teutoburger Wald die Römer unter ihrem Feldherrn Varus besiegt hatte (siehe Dörner 1996), und um Kaiser BarbarossaFriedrich I., Kaiser (Barbarossa) (siehe Berg 1994; Kaul 2007). Als Sehnsuchtsmotiv wurde das national gedeutete mittelalterliche Kaisertum der Nationalbewegung in einem zersplitterten Deutschland zum Sinnbild von Einheit und Größe verklärt. Dieser maßgeblich an Kategorien der Macht orientierte Reichsmythos fand sein eingängiges Bild im schlafenden Kaiser Barbarossa, der im KyffhäuserDenkmalKyffhäuser auf den Moment neuer deutscher Größe wartet (Abb. 1). Als mit der kleindeutschen Reichseinigung 1871 der deutsche Partikularismus überwunden schien, feierte die Legende von der Auferstehung des schlafenden ‚Rotbarts‘ mehr als nur eine Renaissance. In Kaiser Wilhelm I.Wilhelm I., Kaiser, der die deutsche Sehnsucht nach Einheit endlich erfüllt hatte, und seinem rauschenden weißen Bart fand sie eine erzählerische Äquivalenz: Dem Barbarossa trat der Barbablanca zur Seite. Das Nachwirken des überzeichneten Bildes von imperialer, missionarischer Größe des mittelalterlichen KaiserreichsKaiserreich zeigte sich noch Jahrzehnte später im Decknamen „Unternehmen Barbarossa“, den HitlerHitler, Adolf 1941 dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion gab.

      Immer wieder sind es gerade Schlachten und Kriege, die der mythenbeladenen Identitätsbildung dienen: die wundersame Wendung von PreußensPreußen aussichtsloser Lage im Siebenjährigen KriegSiebenjähriger Krieg (1756–1763), der Mythos der „BefreiungskriegeBefreiungskriege“ gegen NapoleonNapoleon, Bonaparte (siehe Carl 2000), der sich im VölkerschlachtdenkmalDenkmalVölkerschlacht von Leipzig (→ Kapitel 6.7) materialisiert hat, der Kult um den Sieg gegen Frankreich 1871. Gerade letzterer zeigt, dass politische MythenMythos, politischer nicht unsterblich sind, denn der Sedan-Mythos ist heute völlig aus dem Erinnerungshorizont der Deutschen verschwunden.

      Abb. 1: Deutscher Reichsmythos: Kaiser Rot- und Weißbart am Kyffhäuser-DenkmalDenkmal

      Einer der wirkmächtigsten deutschen Mythen kommt völlig unmilitärisch daher: Der Mythos Deutschlands als KulturnationKulturnation. Er knüpft sich an Orte (vor allem Weimar und Königsberg), an Epochen (Aufklärung, deutsche Klassik etc.) und Persönlichkeiten aus Literatur (von LessingLessing, Gotthold Ephraim über GoetheGoethe, Johann Wolfgang v. und SchillerSchiller, Friedrich v. bis Thomas MannMann, Thomas und Bertolt BrechtBrecht, Bertolt), Philosophie (von KantKant, Imanuel über NietzscheNietzsche, Friedrich bis HeideggerHeidegger, Martin), Musik (von Bach und HändelBach, Johann Sebastian über Beethoven bis WagnerBeethoven, Ludwig van) und Kunst (von den alten Meistern über die Romantiker bis zu den Malern der Moderne). Gerade in Zeiten staatlicher Schwäche, ob im partikular zersplitterten 19. Jahrhundert oder in der geteilten Nation nach 1945, blieb es das einigende Band, auf das sich die Deutschen über alle realen und ideologischen Grenzen hinweg beziehen konnten. Dass die Stilisierung der Deutschen als Kulturnation in Kriegszeiten auch zum Instrument kulturchauvinistischer Propaganda taugt, zeigte sich im Ersten WeltkriegErster Weltkrieg, als deutsche Intellektuelle den Krieg gegen Frankreich zum Kampf zwischen deutscher Kultur und ‚welscher‘ (= romanischer, v.a. französischer) Zivilisation erklärten.

      Mythen kennen Konjunkturen, das heißt auf Latenzphasen folgen Perioden, in denen die Narrationen wieder aktiviert werden, um Gegenwartserfahrungen zu verarbeiten. Und sie können sich aufeinander beziehen, sich gegenseitig verstärken. Im nationalen Diskurs der Deutschen verbanden sich etwa der Mythos um den Römerbezwinger ArminiusArminius/Hermann der Cherusker mit den herausragenden Mythenfiguren aus der frühen Neuzeit, dem „deutschen LutherLuther, Martin“, der mit der Reformation den Kampf gegen den römischen Katholizismus aufnahm (siehe Lehmann 2000), sowie Friedrich dem GroßenFriedrich II., preuß. König, dessen protestantisches PreußenPreußen dem katholischen Habsburg die Stirn bot und sich gegen eine Welt von Feinden durchsetzte. Im 19. Jahrhundert wurde daraus eine immens wirkungsvolle nationale Großerzählung des Kampfes gegen ausländische Bevormundung konstruiert, die als einigendes Band die Vorstellung einer spezifisch „teutschen Freiheit“ transportierte. In BismarckBismarck, Otto v. fand sie ihren Abschluss als ‚Reichseiniger‘, der im Ringen „deutscher Kultur“ gegen „welsche (d.h. romanische) Zivilisation“ den modernen Nationalstaat durch Blut und Eisen „schmiedete“ – eine wirkmächtige Mythoserzählung, die zur bedingungslosen Opferbereitschaft noch in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts anstiftete (siehe Gerwarth 2007).

      Und heute? Die eingangs erwähnte Präsenz konstruierter moderner Konsum-, Marken- und Lebensstilmythen steht in einem auffallenden Kontrast zur Verdrängung nationaler Mythen aus der staatlich-politischen Sphäre. Während in der DDRDDR der AntifaschismusAntifaschismus zu einem staatstragenden Gründungsmythos aufstieg, tat sich die Bundesrepublik schwer mit einer auf Mythen basierenden Staatsrepräsentation. Vom übersteigerten Nationalismus und der NS-Diktatur desavouiert und im staatlichen Provisorium der geteilten Nation ihres nationalstaatlichen Bezugsrahmens beraubt, blieben die überkommenen nationalen Großerzählungen auf der Strecke (siehe Hacke/Münkler 2009; Cammann/Hacke/Schlak 2005).

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