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Geschichte im politischen Raum. Hilmar Sack
Читать онлайн.Название Geschichte im politischen Raum
Год выпуска 0
isbn 9783846346198
Автор произведения Hilmar Sack
Жанр Документальная литература
Серия Public History - Geschichte in der Praxis
Издательство Bookwire
Und welches mythische Potential entfalten die historischen Ereignisse von 1989/90? Die Erzählung von einer nach Freiheit strebenden Bürgerbewegung, die Mauern niederzureißen vermochte, hat in der dichten Folge von immer stärker inszenierten Gedenkveranstaltungen bereits Kontur gewonnen. Sie gründet aber nur in der Erfahrung eines (zudem bedeutend kleineren) Teils der Bevölkerung – so wie der Achtundsechziger-Mythos, der die Protestbewegung zum eigentlichen Begründer der liberalen Gesellschaftsordnung in der Bundesrepublik stilisiert, ein rein westdeutsches Phänomen ist. Die mythische Überhöhung einer einzelnen Person, die historisch im BismarckBismarck, Otto v.-Mythos begegnet, blieb bislang aus – wohl auch, weil der zum „Kanzler der Einheit“ erkorene Helmut KohlKohl, Helmut durch eine Parteispendenaffäre sein Bild wenn auch vielleicht nicht endgültig so doch nachhaltig demontiert hat. Außerdem erweist sich das Personaltableau der deutschen Einheit von Willy BrandtBrandt, Willy bis Michail GorbatschowGorbatschow, Michail als durchaus heterogen und die Wiedervereinigung vollzog sich in enger Verbindung zum parallel laufenden europäischen EinigungsprozessEuropa, der über die Nation hinausweist.
Prägend für die ErinnerungskulturErinnerungskultur in Deutschland ist vor diesem Hintergrund also weniger ein unhinterfragbarer Mythos – jedenfalls dann, wenn die negative Ursprungserzählung der deutschen Demokratie aus der Erfahrung des HolocaustsHolocaust/Shoah nicht als ein solcher bezeichnet werden soll. Vielmehr ist es die lebendige und kontroverse Erinnerungspolitik, die in der AufarbeitungVergangenheitsbewältigung einer doppelten Diktaturerfahrung gründet (→ Kapitel 6.1). Der Grund für die Schwäche politischer MythenMythos, politischerbildung liegt aber nicht alleine in der nachhaltigen ‚Kontaminierung‘ deutscher Geschichte durch die NS-Vergangenheit und der jahrzehntewährenden deutschen Teilung. Sie ist auch der veränderten Medialität mythischer Erzählungen geschuldet: der Dominanz neuer Mythenproduzenten wie Film und Fernsehen, die die alten mythischen Ausdrucksformen, vom Buch über das DenkmalDenkmal bis zum Fest, herausfordern. Da jedenfalls, wo der Versuch zur offiziellen Inszenierung eines positiv konnotierten Staatsmythos im wiedervereinigten Deutschland gewagt wird, begegnet dieser eher als geschichtspolitisches Rätsel. So werden nur die wenigsten Besucher des vor dem Brandenburger Tor gelegenen „Platz des 18. März“ (Abb. 2) die mit der Namensgebung intendierte demokratische Traditionsbildung nachvollziehen: Eher angestrengt als überzeugend wird hier eine Linie vom 18. März 1848 (deutsche Revolution) zum 18. März 1990Gedenktage18. März (erste freie Wahlen zur Volkskammer in der DDRDDR) gezogen. Und doch kommt eine neue Tendenz zum Vorschein, nationale Identitätsangebote zu machen, für die nicht der Bruch mit der negativen Vergangenheit, sondern eine positive Traditionsbildung konstitutiv ist. Offen bleibt allerdings, ob sich dies fort- oder sogar durchsetzt.
Abb. 2: Geschichtspolitisches Rätsel: Welche Deutung verbirgt sich hinter dem Platz des 18. März?
Weiterführende Literatur
Berding 1996: Helmut Berding (Hg.), Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit (Frankfurt a.M. 1996).
Bizeul 2000: Yves Bizeul (Hg.), Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen (Berlin 2000).
Flacke 1998: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. (= Ausstellung des Deutschen Historischen MuseumsMuseenDHM vom 20. März 1998 bis 9. Juni 1998) (München/Berlin 1998).
Hacke/MünklerMünkler, Herfried 2009: JensJens, Walter Hacke/Herfried Münkler (Hg.), Wege in die neue Bundesrepublik. Politische Mythen und kollektive Selbstbilder nach 1989 (Frankfurt a.M. 2009).
MünklerMünkler, Herfried 2009: Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen (Berlin 2009).
2.4 GeschichtspolitikGeschichtspolitik und GeschichtsgefühlGeschichtsgefühl
Alle Geschichte, postuliert Heinrich August WinklerWinkler, Heinrich August (2004, 7), sei eine Geschichte von Kämpfen um die Deutung von Geschichte. Was meint er damit? Erinnerungen sind an die Gegenwart gebunden, die Deutungen von Geschichte also zeitimmanent und kontextabhängig. Damit sind divergierende Interpretationen möglich, um historischen Ereignissen Sinn zu verleihen, unterschiedliche Geschichtsbilder treten in Konkurrenz zueinander. Da diese aber auf das gesellschaftliche Selbstverständnis zielen, erwächst dem Streit um die historische Deutungshoheit eine eminent politische Dimension (siehe Steinbach 2013). Beim „Griff nach der Deutungsmacht“ (Winkler 2004) geht es also immer auch um die politische Diskurshegemonie. Der politische Kampf wird zum Geschichtskampf, die Deutung von Vergangenheit zur „GeschichtspolitikGeschichtspolitik“ (siehe Schmid 2009 und 2009c; Troebst 2013).
Edgar WolfrumWolfrum, Edgar hat maßgeblich dazu beigetragen, den im ‚HistorikerstreitHistorikerstreit‘ (→ Kapitel 4.2) als „publizistischen Kampfbegriff“ (Schmid 2009c) geprägten Terminus zu einem eigenständigen Theorieansatz fortzuentwickeln (siehe Wolfrum 1996; ders. 1998; ders. 2001). Wolfrum versteht unter GeschichtspolitikGeschichtspolitik die Untersuchung eines Handlungs- und Politikfeldes, „auf dem verschiedene politische Akteure die Vergangenheit mit bestimmten Interessen befrachten und in der Öffentlichkeit um Zustimmung ringen“ (Wolfrum 1998b, 4f.). Weil die Praxis der politischen Indienstnahme von Geschichte und die Erforschung dieser Praxis begrifflich nicht getrennt voneinander sind, sondern beides unter ‚Geschichtspolitik‘ firmiert, unterstreicht Wolfrum (2013, 37) die Ideologiefreiheit der Forschungen zur Geschichtspolitik: Sie „wollen mitnichten Rezepte für den Umgang mit Vergangenheiten liefern. Sie wollen vielmehr herausfinden, wer, wann, warum und mit welchen Mitteln Vergangenheit nutzt, sich auf sie beruft, sie politisch deutet und ummodelt“. Ergebnisse dieser Forschungen sind mithin auch gerade für den interessant, der heute selbst an historisch fundierter politischer Sinnstiftung mitwirken möchte oder daran bereits teilhat.
Das geschichtspolitische Forschungsinteresse liegt weniger auf dem mythisch verdichteten und verinnerlichten Ereignis als vielmehr auf den Akteuren des Deutungskampfes, die die Mobilisierungs- und Integrationskraft der kollektiven Vorstellungen, Denk- und Weltbilder in den Dienst ihrer politischen Interessen stellten (siehe Fröhlich/Heinrich 2004). Die geschichtspolitische Forschung richtet ihren Blick über die ‚Höhenkammliteratur‘ hinaus wesentlich auf den außerwissenschaftlichen Raum. Denn gerade politische Eliten geben nachhaltig Impulse auf die öffentlich zirkulierenden Geschichtsbilder, die in politischen Debatten Breitenwirkung entfalten (Wolfrum 1996, 390). Nicht nur das Verhältnis von Geschichte und Politik, sondern auch das zwischen Politiker und Historiker ist delikat. Zitate zweier Repräsentanten aus Wissenschaft und Politik veranschaulichen die Selbstwahrnehmung der jeweils eigenen Rolle: Während sich BundespräsidentBundespräsident Richard von WeizsäckerWeizsäcker, Richard v. (1920–2015) auf dem Historikertag 1988 bescheiden als „Verbraucher“ geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse