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In der Hochromantik entsteht die Vorstellung, daß ­Goethe ein Werk wie den „Faust“ nur geschrieben habe und nur habe schreiben können, weil er Deutscher war und weil der deutsche Mensch nun einmal von „faustischer“ Natur sei, irgendwie immer schon ein „faustisches“ Streben im Leib habe, so daß sich dieses „Faustische“ wie von selbst in seinem Werk habe manifestieren und wiederfinden müssen.

      Weltliteratur vs. Nationalliteratur

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      Nationalismus und Germanistik

      Aber was ­Goethe auch immer in diesem Sinne unternahm – der Gedanke der Nationalliteratur war nicht mehr aufzuhalten, er setzte sich durch, und ­Goethe wurde als Zentralfigur der deutschen Literatur für ihn vereinnahmt, wurde zum „klassischen deutschen Nationalautor“ ausgerufen, und sein Werk zum Höhepunkt und Inbegriff einer deutschen Nationalliteratur. Man kann diese Vereinnahmung auch eine Fälschung nennen. Zur wichtigsten Werkstatt solcher Falschmünzerei wurde aber bald schon die neue Wissenschaft der Germanistik. Mit

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      einer Lüge hat sie das Licht der Welt erblickt, der schiefe Blick war ihr Geburtsfehler, und manchmal möchte man meinen, daß er bis heute ihr Markenzeichen geblieben sei, wenn sie sich seither natürlich auch in manch anderen Formen des Schielens geübt hat.

      Schon jetzt dürfte deutlich sein, wie wichtig es ist, sich bereits bei der ersten Annäherung an die Literatur der ­Goethezeit Rechenschaft vom Klassik-Mythos zu geben. Solche Rechenschaft ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, etwas von dem in den Blick zu bekommen, was diese Literatur ursprünglich war und sein wollte. Dabei handelt es sich offensichtlich nicht nur um das Abtragen eines historischen Firnis, sondern um sehr viel mehr, nämlich um die Neutralisierung dessen, was die Fälscherwerkstatt des Nationalismus aus dieser Literatur gemacht hat. Die eifrigsten Arbeiter in dieser Fälscherwerkstatt waren aber nun einmal die Germanisten; sie mußten es sein, denn die raison d’être ihrer Disziplin war zunächst eben nichts anderes, als die Literatur der ­Goethezeit als Blütezeit der deutschen Nationalliteratur zu erweisen, sie als Raum der Epiphanie des deutschen Wesens darzustellen und in Erinnerung zu halten.

      Die Ausarbeitung des Klassik-Mythos zur Klassik-Doktrin

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      Lessing, der Sturm und Drang, die Klassik und die Romantik werden dabei als Stationen eines Prozesses verstanden, in dem der Einfluß des Auslands, insbesondere der der französischen Kultur, nach und nach immer weiter zurückgedrängt worden wäre, so daß der deutsche „Volksgeist“ immer entschiedener und bewußter zu sich selbst hätte finden können – bis dahin, daß er in ­Goethe und seinen Mitstreitern schließlich ganz bei sich selbst angekommen wäre und Werke hätte entstehen lassen, die als sein vollkommener Ausdruck gelten könnten. Dementsprechend erscheinen diese Werke hier als ideale Medien einer Kultur der deutschen Identität, als Werke, deren Lektüre die Deutschen ihrer nationalen Identität innewerden ließe und aus ihnen eine selbstbewußte, ihrer selbst gewisse, in sich gefestigte Nation machen würde.

      Die Neugermanistik an Universität und Schule

      Eine Voraussetzung für diese durchschlagende Wirkung war, daß sich die Neugermanistik damals an den Universitäten als ein eigenes Fach, als besondere akademische Disziplin hatte etablieren können, daß nun überall Lehrstühle für neuere deutsche Literatur eingerichtet worden waren – der zweite große Schritt in der Entwicklung der Neugermanistik. Zugleich wurde die neuere deutsche Literatur zu einem Gegenstand des Schulunterrichts; denn das war sie zuvor nur in engen

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      Grenzen gewesen. Damals entstand z. B. Reclams Universalbibliothek, entstand das Institut des Reclamhefts, wie es die wachsende Nachfrage nach wohlfeilen Ausgaben literarischer Texte in Universität und Schule erkennen läßt; das Reclamheft Nr. 1 brachte 1867 bezeichnenderweise eine Ausgabe von ­Goethes „Faust“, der „Bibel der Deutschen“.

      Die Neugermanistik zwischen klassischem Erbe und Moderne

      Die Neugermanistik blieb dem Konzept der Nationalliteratur und der Ausrichtung auf die Blütezeit von Klassik und Romantik bis weit ins 20. Jahrhundert hinein treu, bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, im Osten Deutschlands nicht weniger als im Westen. Und dies, obwohl seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, seit dem Naturalismus von

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