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für die einen die epochalen Gemeinsamkeiten im Vordergrund stehen, wie sie sich aus den großen geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklungen ergeben – wobei hier wiederum zwischen denen zu unterscheiden ist, die die „innere Einheit“ der Epoche eher auf „klassische“ oder eher auf „romantische“ Prinzipien zurückführen – denken die anderen zunächst und vor allem an das Widerspiel von „klassischer“ und „romantischer“ Kunst. Als Korff seinen „Geist der ­Goethezeit“ schrieb, hatte die Germanistik gerade eine Phase hinter sich, in der sie sich besonders energisch um die Abgrenzung von „Klassik“ und „Romantik“ bemüht hatte, so daß Korff es für nötig hielt, den inneren Zusammenhang der Epoche neuerlich zur Geltung zu bringen. Und dieser innere Zusammenhang hieß für ihn eben ­Goethe, so wie schon für Heine und die anderen frühen Literarhistoriker.

      ­Goethe und die ­Goethezeit

      Johann Wolfgang ­Goethe – seit 1782 „von ­Goethe“ – ist 1749 geboren und 1832 gestorben. Bekannt wurde er vor allem durch zwei Werke, durch das Drama „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ (1773) und den Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774), und nicht nur bekannt – er wurde durch sie mit einem Schlag zur zentralen Figur des literarischen Lebens in Deutschland. Schon der „Götz“ war eine literarische Sensation, und erst recht der „Werther“. Dieser entwickelte sich zu einem Bucherfolg, wie ihn ein deutscher Autor bis dahin noch nicht erlebt hatte. Wer immer auf sich hielt, wer auf der Höhe der Zeit sein und mitreden wollte, las ­Goethes Roman. Die jungen Leute kleideten sich wie Werther und seine geliebte Lotte,

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      In solchen neuen Formen des Umgangs mit Literatur werden tiefgreifende Wandlungen faßbar, Wandlungen nicht nur des literarischen Lebens, sondern des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens überhaupt, und sie sind für die Zeitgenossen wesentlich mit dem Namen ­Goethes verknüpft. Eine immer größere Zahl von Menschen bringt der Literatur ein immer höheres Maß an Interesse entgegen, und ein immer vitaleres, persönlicheres, existentielleres Interesse; und dieses richtet sich gerade auch auf die zeitgenössische Literatur, sucht sie eben um ihrer Zeitgenossenschaft willen. Die Literatur gewinnt so einen neuen Stellenwert im Gefüge der gesellschaftlichen Institutionen, und damit wiederum neue Möglichkeiten, um in die Gesellschaft hineinzuwirken. Zugleich werden hier Wandlungen des gesellschaftlichen Lebens überhaupt greifbar. Daß die Literatur einen solchen Bedeutungszuwachs erfährt, setzt ja doch voraus, daß sich die Gesellschaft auf eine bestimmte Weise öffnet, daß sie nämlich jener medialen Öffentlichkeit, in der die Literatur zuhause ist, immer mehr Raum gibt und sie mehr und mehr zu dem Ort macht, an dem sich ihre Steuerdiskurse formieren.

      Dies alles sind Entwicklungen, die sich schon früher im 18. Jahrhundert abzuzeichnen beginnen, die nämlich bereits von der Aufklärung auf den Weg gebracht worden sind, die aber nun, in der ­Goethezeit, immer stürmischere Formen annehmen, so daß hier das gesamte soziokulturelle Gefüge ein anderes wird, in das Kunst und Literatur eingestellt sind, und damit auch diese selbst. Kunst und Literatur

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       werden institutionell autark und ideologisch autonom, ja mancherorts werden sie nun geradezu zu einer Art Religionsersatz, zum Kultobjekt einer „Kunstreligion“.

      Jeder Künstler, der sich der Erinnerung der Menschen einprägen und in das kulturelle Gedächtnis eingehen will, muß wenigstens einmal im Leben eine Sensation gewesen sein, muß einmal ein Rendezvous mit dem Zeitgeist gehabt, einmal den Nerv der Zeit getroffen haben. So war es bei ­Goethe im Fall des „Götz“ und des „Werther“. Wohl haben einzelne seiner Werke auch später noch ein gewaltiges Echo gehabt, etwa das Drama „Iphigenie auf Tauris“ (1779 / 1787), der Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795–1796), die epische Idylle „Hermann und Dorothea“ (1797), die Tragödie „Faust“ (1808 / 1833) und die Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ (1811–1813 / 1833), von seinen Gedichten ganz zu schweigen. Und einige von diesen Werken haben womöglich noch entschiedener und nachhaltiger auf die Entwicklung der Literatur eingewirkt als der „Götz“ und der „Werther“. So begann mit der „Iphigenie“ das Reden von einer klassischen deutschen Dichtung, begann mit „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ das Nachdenken über romantische Kunst, und der „Faust“ wurde nach Heine gar zu einer Art „Bibel der Deutschen“ (HS 5, 400), um es 150 Jahre lang zu bleiben. Aber einen solchen allgemeinen Aufstand wie mit dem „Götz“ und dem „Werther“ hat ­Goethe nie wieder erlebt.

      In den frühen siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts also ist ­Goethe zur zentralen Figur des literarischen Lebens in Deutschland geworden, und er ist es bis zu seinem Tod geblieben. Zwar waren bis dahin schon zwei Generationen von jungen Autoren aufgetreten, die ­Goethe als überholt empfanden und sich alle Mühe gaben, ihn und sein Werk als veraltet zu brandmarken – eine erste Generation hatte sich in den neunziger Jahren zu Wort gemeldet, die Generation der Frühromantiker, der Brüder Schlegel, der Tieck und Novalis, und eine zweite in den zwanziger Jahren, die Generation Heines und der Jungdeutschen – aber sie hatten dessen Position letztlich nicht erschüttern können, ja diese hatte sich angesichts ihrer Angriffe eher weiter befestigt. So wurde ­Goethes Tod 1832 allgemein als das Ende einer Epoche erlebt, auch von seinen Gegnern, und zwar als das Ende einer besonders glanzvollen Epoche, als Schlußpunkt hinter dem Besten, was die deutsche Literatur bis dahin gesehen hatte.

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      Die Daten 1770 und 1830 lassen sich übrigens auch auf ein Hauptwerk ­Goethes beziehen, auf seinen „Faust“. Denn während all dieser Jahre – um genau zu sein: von 1772 bis 1831 – hat ­Goethe immer einmal wieder an ihm gearbeitet, und er ist darüber zu einem Werk herangewachsen, das man wohl das große Buch der Epoche nennen darf. Nicht nur daß seine Entstehungszeit die gesamte Epoche umfaßt und daß es von allem, was seinerzeit geschrieben wurde, die größte Wirkung gehabt hat, eben jene Wirkung, die es zur „Bibel der Deutschen“ werden ließ – dank seiner langen Entstehungsgeschichte ist auch ungewöhnlich viel von dem in es eingeflossen, was die Menschen in diesen sechzig ereignisreichen Jahren beschäftigt hat, ist es zu einer Art Extrakt ihrer geschichtlichen Erfahrungen und ihrer theoretischen und praktischen Versuche geworden, sich mit dem geschichtlichen Wandel ins Benehmen zu setzen. So kommt man bis heute kaum am „Faust“ vorbei, wenn man sich ein Bild von der ­Goethezeit machen will.

      Zum Aufbau dieses Bands

      Im folgenden soll zunächst der Vorstellung von der ­Goethezeit als der klassischen Blütezeit der deutschen Literatur nachgegangen werden. Es soll gefragt werden, wie es zu ihr gekommen ist und was sie besagt, um sie einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Denn es handelt sich bei ihr um eine durchaus problematische Vorstellung, um eine historische Bürde, die den Zugang zur Literatur der ­Goethezeit eher schwerer als leichter macht, zumal für einen Leser von heute. Daß diese Literatur im Strahlenkranz des Klassischen in das kulturelle Gedächtnis eingegangen ist, mag ihr zwar ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit sichern, läßt jedoch zugleich ihre Konturen auf eine Weise verschwimmen, die ihrem Verständnis nicht zuträglich ist. So besteht die erste Aufgabe für uns darin, uns Rechenschaft von der Klassik-Doktrin zu geben und diese, soweit sie zu einer Hürde des Verstehens geworden ist, aus dem Weg zu räumen.

      Zu diesem Zweck soll zunächst das Epochenschema rekapituliert werden, das von der frühen Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert konstruiert worden ist und das von ihr aus in das kulturelle Gedächtnis eingegangen ist, das Schema Aufklärung – Sturm und Drang – Klassik – Romantik – Epigonenzeit. Seine Analyse wird einerseits zum Begriff des Klassischen als dem Herzstück des Konstrukts führen, und damit zu Fragen der Antike-Rezeption; denn „klassisch“ meint hier noch immer jene

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