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der klassischen Antike erreichen sollen. Und sie wird andererseits zum Begriff der „Nationalliteratur“ führen, wie er um 1800 unter dem Vorzeichen eines neuartigen Nationalismus Kontur annahm; unter Klassik wird hier nämlich die Blütezeit einer „Nationalliteratur“ verstanden.

      Dabei wird auch auf die geschichtlich-gesellschaftlichen Rahmen­bedingungen einzugehen sein, die die Basis und den Hintergrund für die Entwicklung der Literatur bilden. Das aber heißt vor allem: es wird von der Französischen Revolution zu handeln sein. Nichts hat die Welt in der ­Goethezeit heftiger durcheinandergewirbelt, nichts die Menschen intensiver beschäftigt als sie, einschließlich all derer, die schrieben. Die Geschichte setzte sich mit ihr auf eine Weise in Bewegung, riß die Gesellschaft durch sie in eine Dynamik hinein, über der noch dem versiertesten Zeitdiagnostiker Hören und Sehen verging – ein spektakulärer Modernisierungsschub, der sich in den Augen der meisten Zeitzeugen allerdings bald schon zu einer großen Modernisierungskrise auswuchs. So erblickten denn auch die Autoren seither ihre erste und vornehmste Aufgabe darin, eine Literatur zu schaffen, die vor dieser Herausforderung bestehen könnte.

      Die kritische Revision der Klassik-Doktrin und des überkommenen Epochenschemas soll mit einem Blick auf Autoren fortgeführt und abgerundet werden, die nicht so recht zu den Begriffen des Sturm und Drang, der Klassik und der Romantik passen wollen und die doch das Bild der Epoche wesentlich mit prägen, auf die literarischen Einzelgänger Klopstock, Karl Philipp Moritz, Jean Paul, Hölderlin und Kleist. Von hier aus soll dann auch ­Goethe selbst ins Auge gefaßt und der Stellung ­Goethes im literarischen Leben seiner Zeit nachgegangen werden, also seiner Beziehung zu anderen Autoren und zu den verschiedenen literarischen Gruppen und Bewegungen. Wie steht es um ­Goethes Teilhabe an der Bewegung des Sturm und Drang, wie hat sich sein Verhältnis zu etablierten Größen des Literaturbetriebs wie Klopstock und Wieland entwickelt, und wie das zu jüngeren Autoren wie Schiller, den Frühromantikern, Jean Paul, Hölderlin und Heine? Ein wichtiger Punkt wird hier die Ausbildung und kontroverse Diskussion der „Kunstreligion“ sein, wie sie sich seinerzeit zu einem der großen Konkurrenten der mehr und mehr die Kultur dominierenden „Nationalreligion“ gestaltete.

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      Am Schluß soll ein Versuch stehen, so etwas wie die entscheidenden Impulse, die zentralen Fragen und Anliegen der Literatur jener Jahre herauszuarbeiten. Wenn es richtig ist, daß die Klassik-Doktrin und das alte Epochenschema den Blick auf diese Literatur eher verstellen als schärfen, dann muß wohl noch einmal neu und anders gefragt werden, worum es ihr zu tun ist und was sie allenfalls für einen heutigen Leser interessant und bedeutsam machen kann. Die These wird sein, daß es sich bei ihr um eine Literatur handelt, die sich erstmals umfassend von dem Rechenschaft zu geben versucht, was man heute „Modernisierung“ nennt; die sich um eine umfassende Bestandsaufnahme der Moderne bemüht und dabei eingehend mit dem auseinandersetzt, was ihre Autoren vor allem seit der Französischen Revolution an Gefahren der Modernisierung meinen ausmachen zu können.

      Mit Modernisierung ist hier der historische Prozeß gemeint, der aus den alten europäischen Gesellschaften jene moderne Gesellschaft gemacht hat, in der wir heute leben, ein Prozeß, der im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, wenn schon nicht begonnen, so doch seine entscheidende Wendung genommen hat. Als zentrale Momente der Modernisierung werden zu vergegenwärtigen sein: die Verwissenschaftlichung der Welt auf der Basis der allmählich sich formierenden modernen Wissenschaft, die Mobilisierung der Menschen im Namen des wissenschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Fortschritts, die Entfaltung eines Pluralismus der Weltanschauungen und Lebensstile und die zunehmende Individualisierung. Und als Gefahren, die die Literatur der ­Goethezeit an solcher Modernisierung hat ausmachen wollen, werden zu verhandeln sein: das Umschlagen des Fortschrittsgedankens in einen totalitären Machbarkeitswahn, die äußere und innere „Entwurzelung“ des Menschen als Folge seiner Mobilisierung für den Fortschritt und die Tendenz des modernen wissenschaftlichen Denkens zu Materialismus und Nihilismus.

      Es wird sich zeigen, daß sich die Literatur der ­Goethezeit unausgesetzt an diesen Gefahren abgearbeitet hat, wobei sie sich mit ihnen bald mehr im Sinne der Aufklärung und bald mehr in dem eines Bruchs mit dem aufklärerischen Denken, einer Wendung zur Gegenaufklärung auseinandergesetzt hat. An der Aufklärung hat sich vor allem die Klassik, an der Gegenaufklärung vor allem die Romantik orientiert. Auch die Konzepte der „Nationalreligion“ und der „Kunstreligion“

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      finden von jener Gefahrendiagnose aus ihre Begründung, lassen sie sich doch nur als Versuche verstehen, die Gefahren der Modernisierung einzufangen und zu bändigen. Was bei alledem an Aspekten zu Tage tritt, soll abschließend noch einmal an ­Goethes „Faust“ vergegenwärtigt und geprüft werden.

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      Die ­Goethezeit im kulturellen Gedächtnis

      Wenn die Zeit von 1770 bis 1830, von der späten Aufklärung über den Sturm und Drang, die Klassik und die Romantik bis an die Schwelle zu Biedermeier und Vormärz hier als ein eigenes, besonderes Kapitel der Literaturgeschichte ins Auge gefaßt wird und wenn von ihr überdies als von der ­Goethezeit die Rede ist, so zeigt dies einmal mehr, daß die Wissenschaft bis heute kaum umhinkommt, der Tatsache Tribut zu zollen, daß diese Literatur und daß die Gestalt ­Goethes seit jeher als etwas Besonderes gelten; daß sie sich nämlich unter dem Vorzeichen des Klassischen in das kulturelle Gedächtnis eingegraben haben. Die ­Goethezeit – das soll die große „Blütezeit“, das „Goldene Zeitalter“ der deutschen Literatur, eben der klassische Höhepunkt ihrer Geschichte gewesen sein, und ­Goethe der klassischste unter den vielen klassischen Autoren jener Jahre, wenn nicht der deutsche Klassiker schlechthin.

      Man mag das kritisieren; man mag es für problematisch, für ungerecht und unhistorisch halten, wenn eine bestimmte Epoche und ein einzelner Autor auf solche Weise aus der geschichtlichen Entwicklung heraus- und über anderes hinausgehoben werden, ja man mag darin geradezu ein Unheil erblicken – es ändert nichts an der Tatsache, daß sie lange Zeit so gesehen worden sind und daß sich ihr Bild in solcher Bedeutung im kulturellen Gedächtnis festgefressen hat. Wie fest, mag man etwa daraus ersehen, daß eine unbedeutende Kleinstadt wie Weimar 1999 aus Anlaß des 250. Geburtstags von ­Goethe zur Kulturhauptstadt Europas ausgerufen wurde, welche Mengen von öffentlichen Geldern damals nach Weimar flossen und welche Beachtung die Events des ­Goethe-Jahrs in den Medien und bei einem breiten Publikum fanden. Oder man erinnere sich an das gewaltige Echo, das der Brand der Anna-Amalia-Bibliothek zu Weimar, einer zentralen Stätte der Erinnerung an die „Weimarer Klassik“, 2004 in der Öffentlichkeit hatte. Oder man denke an die zahllosen ­Goethe-Straßen und ­Goethe-Plätze, die sich überall in Deutschland

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      finden. Klassik-Mythos und ­Goethe-Kult sind nach wie vor feste Bestandteile der deutschen Kultur.

      Sie sitzen tief, sie wirken bis heute, und so hat man sie zunächst einmal als Fakten der Kulturgeschichte und Faktoren des kulturellen Lebens zur Kenntnis zu nehmen – und zur Kenntnis nehmen heißt ja noch nicht gutheißen. Man hat sie zur Kenntnis zu nehmen als Teil der kulturellen Landschaft, in der man sich bewegt, so wie man die geographischen Gegebenheiten zur Kenntnis nehmen muß, wenn man sich nicht verlaufen will.

      Der Klassik-Mythos als Problem der Literaturwissenschaft

      Zumal die Literaturwissenschaft hat allen Grund, sich von dem besonderen Status der ­Goethezeit Rechenschaft zu geben. Denn der Klassik-Mythos hat mehr als 150 Jahre lang den Blick auf die Epoche bestimmt und unausgesetzt am Bild ihrer literarischen Hinterlassenschaft mit herummodelliert. Was von ihm aus an Vorstellungen kultiviert worden ist, hat sich wie ein Firnis über die literarischen Werke gelegt, ja ist dank einer kontinuierlichen Rezeption und Interpretation in seinem Sinne tief in die Texte selbst eingedrungen. Schon bevor der Leser ­Goethes „Faust“

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