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      Ich hatte mich mit Sage im Königreich verabredet, sobald sie konnte, und ihr vorher durchgegeben, was wir laut Marie brauchten: Antibiotika und Valium. Es würde ein Weilchen dauern, bis Sage das Gewünschte unbemerkt aus der Praxis ihres Vaters schmuggeln konnte. Grady Adams war Arzt, seine Praxis befand sich direkt neben dem Wohnhaus. Charlotte, Sages Mutter, war seine Sprechstundenhilfe. Beide stammten aus dem Süden. Sage nannte sie immer beim Vornamen, wenn sie von ihnen erzählte. »Gestern hatten Grady und Charlotte Gäste zum Abendessen, und Mrs Nelson hat zu viel getrunken und versucht mit Grady zu füßeln, während Charlotte und ich direkt daneben saßen. Vor unseren Augen!« So redete Sage, gab immer wieder kleine Dramen zum Besten, die ihre Eltern spannend wirken ließen. Sie erzählte von ihnen wie von zwei schrulligen Originalen, mit denen sie befreundet war. Darum beneidete ich sie. Wenn ich an diese Familie dachte, an Grady, Charlotte, Sage und ihre Brüder, dann immer wie durch einen Schleier aus Glück; ihr Leben leuchtete, sogar, wenn Sage das Gegenteil behauptete.

      Die frühe Morgensonne malte Flecken auf den Waldboden, erhellte die Tüpfelfarn-Büschel und das dicht wuchernde Moos. Ich gab mir Mühe, langsamer zu gehen und nachzudenken. Mom wird nichts merken. Sie hat Thomas zum Schwimmtraining gebracht. Beatrice ist mitgefahren. Marie ist bei Ellen. Sie wird schon wieder, das sagte ich mir immer wieder stumm vor. Trotzdem hatte ich Angst. Es ging Ellen nicht gut. Auch sie hatte nicht geschlafen. Heute früh war sie schwach und benommen gewesen, und Marie meinte, ihr Puls und ihr Atem gingen viel zu schnell. Sie vermutete, das müsse der Schock sein, und sagte, wir bräuchten Valium, damit Ellens Körper wieder zur Ruhe käme, und Antibiotika, damit die Wunden sich nicht entzündeten. Ich machte mir immer noch Sorgen um mögliche innere Verletzungen, die wir nicht sehen konnten.

      Ich ging über den Horseshoe Trail bis zum Königreich, einer geheimen Festung, die Sage und ich uns vor ein paar Sommern gebaut hatten. Direkt vor mir stand der krumme Baum, die Markierung, an der wir den Weg verlassen mussten, um hintenrum zum Königreich zu gelangen. Das hatten wir uns angewöhnt, damit uns nie ein Abdruck oder eine Fußspur verraten würden. In unserer Vorstellung war der krumme Baum einer von denen, die den Indianern auf ihren Pfaden als Wegweiser gedient hatten, um gute Jagdreviere zu kennzeichnen oder weichen Boden, auf dem man schlafen konnte. Es war eine Eiche, erst ganz gerade gewachsen, aber dann beschrieb ihr Stamm plötzlich für einen knappen Meter einen rechten Winkel, um danach wieder gerade nach oben zu wachsen. Schon bevor es das Königreich gab, hatte Dad mir diesen Baum gezeigt. Er meinte, es könne sich durchaus um einen Wegweiser handeln, vielleicht sei aber auch ein größerer Baum auf die noch kleine Eiche gestürzt und dann im Lauf der Zeit verrottet oder zerfallen. Der junge Baum hatte überlebt, aber diese merkwürdige Form zurückbehalten.

      Das Königreich war eine kleine Lichtung knapp anderthalb Meter oberhalb des Wegs, ein naturgegebenes Rund inmitten einer Gruppe Roteichen und dichter Berglorbeersträucher. Drinnen sorgte dunkelgrünes Moos für einen natürlichen Teppich. Sage und ich hatten ein tiefes Loch ausgehoben, in dem wir einen großen Koffer mit unserer Ausrüstung aufbewahrten: Taschenlampen, Batterien, Konserven, Schlafsäcke und Kissen – unser ganz persönlicher kleiner Atombunker. Für das Loch hatten wir einen Monat gebraucht, weil wir uns durch dichtes Wurzelwerk arbeiten mussten. Niemand wusste davon, bis auf Ellen, und das auch nur, weil ich an dem Tag, als wir den Koffer hergeschafft hatten, für sie zuständig war. Ich hatte auch eine von Dads Planen mitgebracht, die er beim Laubrechen verwendete; sie war auf einer Seite wasserabweisend und hatte vorgestanzte Löcher. Mit einem Hammer hatten wir Haken in die umstehenden Eichen getrieben, sodass wir uns jederzeit ein Dach basteln konnten, falls wir es einmal brauchten. Den Kofferbunker hatten wir mit einem Brett, Laub und Moos abgedeckt. Er war schon seit einigen Jahren nicht mehr geöffnet worden, allmählich zogen sich Wurzeln darüber. Wir hatten auch noch andere Vorratslager, flachere Löcher für Zigaretten und Streichhölzer oder Bier. Im Königreich redeten wir, rauchten Charlottes Mentholzigaretten und hin und wieder hatten wir auch schon lauwarmes Yuenglingoder Rolling Rock-Bier aus der Flasche getrunken, das wir aus Gradys Kühlschrank unten im Hobbyraum stibitzten. Nachbarn kamen auf diesem Teil des Wanderwegs praktisch keine mehr vorbei, nur Wanderer, und die sahen wir vom Königreich aus immer rechtzeitig genug, um uns zu ducken und unsichtbar zu machen. Sollten wir jemals weglaufen müssen, würde uns niemand erwischen – wir kannten jede Wurzel, jede Bodenwelle. Ich hätte den Weg auch barfuß bei Nacht entlangrennen können.

      Im Königreich setzte ich mich vor eine große Roteiche, lehnte mich, die Knie an die Brust gezogen, an ihren Stamm und wartete. Dabei löste ich das dichte Moos in Streifen vom Boden ab und legte Muster daraus. Seltsam, dass es so ganz ohne Wurzeln wachsen konnte. Ich fuhr mit der Hand über die zarten lila Sporenkapseln an ihren fadendünnen Stängeln.

      Am Ende hatte Sage Ellen nach Hause gebracht. Ich hatte sie angerufen und gebeten, zu den Bouchers zu kommen und etwas Kleidung zum Wechseln mitzubringen. Es war schon fast Mitternacht, als Sage eintraf. Sie trug ihre abgeschnittenen Jeans-Shorts und ein verwaschenes T-Shirt mit dem Zungen-Logo der Rolling Stones – ihrer Lieblingsband. Sage hatte langes, lockiges goldblondes Haar, das in Stufen geschnitten war, und ein paar Sommersprossen auf der Nase. Ihre Schneidezähne zeigten leicht nach innen, ein kleiner Schönheitsfehler, den jeder andere sicher mit einer Zahnspange behoben hätte. Aber sie mochte ihre Zähne. »Die gehören zu meiner Persönlichkeit«, sagte sie. Jetzt, wo sie da war, fühlte auch ich mich wieder sicher. Wir erzählten ihr, was passiert war, und Sage hörte zu und hielt dabei die ganze Zeit Ellens Hand. Sie wusste, was zu tun war. Sie ließ Ellen alle Gliedmaßen bewegen, um sicherzugehen, dass nichts gebrochen war. Dann stellte sie Fragen, auf die ich gar nicht gekommen wäre.

      »Ellen, ich weiß, das ist jetzt schwer, aber hat dir der Mann in die Unterhose gefasst?«

      Ellen schüttelte den Kopf.

      »Bist du sicher? Hat er dich gezwungen, ihn irgendwo anzufassen?«

      Wieder schüttelte Ellen den Kopf.

      »Gibt es sonst noch etwas, was du uns nicht erzählt hast und was dir Angst macht?«

      »Nein. Ganz sicher nicht.«

      Sage sagte ihr, es werde alles gut werden, und für einen Moment glaubte auch ich daran. Ellen lehnte den Kopf an Sages Schulter.

      »Sie kann unmöglich nach Hause laufen, Libby«, sagte Sage. »Entweder du erzählst Mrs Boucher alles, wenn sie wiederkommt, oder ich rufe Charlotte an.«

      »Nein. Keine Eltern. Das macht es nur noch schlimmer. Ich kümmere mich drum.« Ich rief zu Hause an, und Marie nahm sofort ab.

      »Ich bin’s.«

      »Mom ist gerade weg«, sagte Marie. »Wahrscheinlich fährt sie sie jetzt doch suchen.«

      »Ellen ist hier.«

      »Was? Oh, Gott sei Dank!«

      »Ja. Aber ihr ist etwas passiert. Es geht ihr gut, aber sie kann nicht nach Hause laufen.«

      »Ich organisiere was. Mach sie startklar.«

      Wir hatten noch keine zwanzig Minuten gewartet, als oben an der Einfahrt Scheinwerfer auftauchten und sich dem Haus näherten. Ich geriet in Panik. Was, wenn das Mrs Boucher war? Wie sollte ich ihr erklären, dass Sage und Ellen hier waren? Eine Autotür schlug zu, die Scheinwerfer blieben an, und eine bullige Gestalt trat in den Lichtkegel der Außenbeleuchtung. Ein Mann. Er klopfte leise. Ich schaute nach draußen. Breite Schultern. Ich erkannte das dunkle Haar, die Wildlederjacke mit den Fransen. Es war Wilson McVay mit dem Buick seines Vaters. Ellen war fertig, sie trug Sages Kleider, und Sage hielt ihre Schuluniform in der Hand. Ich öffnete die Haustür, und Wilson blieb auf der Schwelle stehen und musterte uns.

      »Ihr seid dann wohl die Florence Nightingales vom Dienst«, sagte er.

      »Hallo, Wilson«, sagte Sage. Sie führte Ellen zur Tür.

      »Ja, hallo«, sagte ich.

      »Das ist Ellen«, sagte Sage.

      »Guten Abend, Miss Ellen.« Wilson verbeugte sich leicht. »Ihr Taxi wartet schon.« Ellen musste grinsen. Wilson roch nach Leder, Rasierwasser und einer Spur Alkohol. Ellen und Sage gingen mit ihm zum Wagen, und ich wedelte währenddessen mit der Tür, damit sich sein Geruch

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