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fuhr schlaftrunken hoch. Rattes Bruder drehte sich auf die Seite und schnarchte weiter. Hinter Ratte konnte Appaz eine nackte Schulter erkennen und lange, blonde Haare. Sabine! Als Ratte ihr den olivgrünen Bundeswehrschlafsack wegzog, rollte sie sich murrend in das zusammengeknüllte Laken. Appaz und die beiden anderen konnten sehen, dass sie goldfarbene Riemchensandalen anhatte. Mit bleistiftdünnen Absätzen.

      Lepcke guckte schnell woanders hin.

      Ratte streifte sich sein altes T-Shirt über und stieg in die Jeans, die so eng waren, dass sein Hintern aussah wie ein Entenarsch. Sie halfen ihm, die Kiste mit den Konservendosen nach unten zu bringen.

      »Nudeln in Tomatensoße«, sagte Ratte, »und Corned Beef und so’n Zeug.«

      Auf der Kiste stand in sauberen Blockbuchstaben: NOTRATIONEN. EIGENTUM DER BUNDES-WEHR.

      Der Ami hatte es sich inzwischen mit Kerschkamps Kopfkissen bequem gemacht und las ein Buch. Steppenwolf von Hermann Hesse.

      Ratte guckte Appaz fragend an.

      »Hä, was soll das denn? Wieso ist der denn da …?«

      »Hi!«, ließ sich der Ami vernehmen und blätterte die Seite um.

      »Scheiße«, sagte Kerschkamp, »habe ich ja ganz vergessen dir zu erzählen. Er kommt für Hansi mit.«

      »Ist doch gut«, sagte Lepcke. »Und außerdem hat er einen Führerschein.«

      Ratte zuckte nur mit den Schultern.

      Auf dem Weg zur Autobahn hielten sie an der Shell-Tankstelle. Der Tankwart konnte sich noch an Appaz erinnern, weil er vorgestern schon mal bei ihm getankt hatte. Für vier Mark, mehr hatte er nicht dabeigehabt. Diesmal tankten sie voll. Lepcke kontrollierte die Luft.

      »Große Fahrt, was?«, fragte der Tankwart, während er mit dem Leder über die Windschutzscheibe wischte.

      »Heavy Tour«, sagte Kerschkamp.

      Dann waren sie auf der Autobahn. Der Bus lief fünfundneunzig. Hundert. Appaz versuchte, das Gaspedal nicht ganz bis zum Anschlag durchzutreten. Zur Hildesheimer Börde hoch sackte die Tachonadel auf siebzig. Appaz schaltete in den dritten Gang zurück.

      Lepcke hockte neben ihm, mit einer Europakarte auf den Knien. Im Rückspiegel konnte er Ratte sehen, der gerade versuchte, Kerschkamps Kassettenrecorder in Gang zu setzen. Kerschkamp holte einen Stapel Kassetten aus seinem Seesack. Der Ami las immer noch Hermann Hesse.

      »Was wollt ihr hören, Leute?«, fragte Kerschkamp.

      Sie einigten sich auf Zappa, Overnite Sensation. Camarillo Brillo. She had a snake for a pet, and an amulet…

      Kerschkamp sang mit. Ratte fummelte am Spannungswandler, bis die Kassette nicht mehr eierte. Trotzdem blieb der Klang beschissen, blechern und ohne jeden Bass. Aber der Motor dröhnte ohnehin so laut, dass man kaum was hörte.

      »She had grey-green skin, a doll with a pin, I told her she was alright, but I couldn’t come i-in«, sang Kerschkamp begeistert, »actually I was very busy then …«

      Lepcke war der Erste, der pinkeln musste.

      »Vergiss es«, sagte Ratte, »wenn du jetzt pinkelst, dann musst du alle fünf Minuten. Du musst dir das erste Mal verkneifen, das ist es.«

      »He, Leute, kennt ihr das?«, brüllte Kerschkamp, »dass man nicht bumsen kann, wenn man pinkeln muss, kennt ihr das?«

      Sie hielten auf irgendeinem Parkplatz.

      Kerschkamp stellte sich breitbeinig neben Lepcke.

      Ratte packte die Brote aus, die ihm seine Mutter geschmiert hatte.

      »Leberwurst, vom Bund«, sagte er mit vollem Mund, »geil.«

      »Das stinkt!«, erklärte der Ami, klappte den Hesse zu und kletterte über die Rückenlehne, um ebenfalls zu pinkeln.

      Ratte pellte sich ungerührt ein hartgekochtes Ei.

      Die Sonne wurde langsam wärmer. Appaz klemmte die dunklen Gläser auf seine Brille.

      »Hartgekochte Eier, ist ja Wahnsinn«, sagte Kerschkamp und griff zu.

      Ratte nahm einen Schluck Cola und rülpste.

      Kerschkamp tauschte den Platz mit Lepcke. Die Eierschalen bröckelte er in den Aschenbecher, der genau in der Mitte oben auf dem Armaturenbrett war. Dann zog er den Aschenbecher aus der Halterung und gab ihn nach hinten, weil Ratte rauchen wollte.

      An der Steigung hinter der Werratal-Brücke musste Appaz in den zweiten Gang zurückschalten. Mit knapp vierzig quälten sie sich die Kriechspur hoch. Ein Tanklastzug schob sich von hinten heran und zog hupend vorbei.

      »Ist leer, der Arsch, deshalb«, erklärte Kerschkamp.

      Lepcke streckte den Kopf nach vorne.

      »Ist alles okay?«, fragte er und schielte auf die Tachonadel, die sich zitternd der Dreißig näherte.

      Appaz war froh, als er endlich wieder in den Dritten gehen konnte.

      »Jetzt aber«, sagte Kerschkamp, als sie über die Kuppe waren.

      Lepcke lehnte sich zurück. Er nahm Ratte die halb gerauchte Kippe aus der Hand. Ratte hatte den Kopf gegen die feuchte Zeltbahn gelegt und pennte.

      Hinten lag der Ami mit angezogenen Beinen und las wieder.

      Kerschkamp drehte Appaz eine Zigarette. Eine von denen, die so locker waren, dass man sie nach dem ersten Zug eigentlich schon wieder wegwerfen konnte.

      »Sag mal«, sagte Kerschkamp plötzlich, »hast du das gesehen? Heute Morgen, die Schuhe, die Sabine anhatte, glaubst du, dass sie die ganze Nacht über, also, ich meine, auch wenn sie mit Ratte …«

      Er machte eine vage Handbewegung.

      Appaz zupfte sich ein paar Tabakkrümel von der Lippe.

      »Klar«, sagte er, »das sind wahrscheinlich ihre Reitstiefel. Für den langen Weg nach Laramie.«

      »Redet ihr über mich?«, fragte Ratte von hinten und drehte die Musik leiser.

      »Quatsch«, sagte Kerschkamp.

      Sie grinsten sich an.

      »O Mann«, sagte Kerschkamp.

      »Kiss my aura, Dora«, sang Zappa, »mmh, it’s real angora, would you like some more-a?«

      Bergab lief der Bus fast hundertzehn, brauchte dabei aber auch mühelos beide Fahrspuren, egal, wie stark Appaz das Lenkrad festhielt. Appaz nahm ein bisschen Gas weg. Bei fünfundneunzig wurde es besser, und er konnte wieder mit einer Hand lenken. Die andere hatte er auf dem Schaltknüppel, der bei jeder Teernaht ruckte und zitterte.

      Kerschkamp fing an, von der Schule zu erzählen. Wie er in der Achten mal mit Richter in den Alpen war. Appaz kannte die Geschichte schon. Wie Richter jeden Morgen neue Regeln auf gestellt hatte, und wer gegen irgendeine dieser Regeln verstieß, musste sich die Hose runterziehen und kriegte von Richter mit der flachen Hand den Hintern versohlt. Und eines Tages hatte Richter dann absichtlich selber gegen eine dieser Regeln verstoßen und von den Schülern verlangt, dass sie ihn bestraften. Genau so, wie er sie sonst bestraft hatte. Mit Schlägen auf den nackten Hintern. Zu Hause hatte keiner was gesagt, weil sie alle Angst gehabt hatten. Woraufhin Richter im nächsten Jahr wieder in die Alpen fuhr. Mit einer neuen achten Klasse.

      »Scheiße, was«, sagte Kerschkamp.

      Sie waren sich einig, dass sie es in ihrer Schulzeit bisher eigentlich nur mit einem Haufen von Perversen zu tun gehabt hatten.

      »Alle gestört und pervers«, sagte Kerschkamp.

      »Oder alte Nazis«, sagte Appaz.

      Kerschkamp nickte.

      »Kannst du dich noch an Biesinger erinnern?«, fragte er.

      Natürlich konnte Appaz sich noch an Biesinger erinnern. Biesinger

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