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klang wirklich fertig, als er das erzählte.

      Rattes großer Bruder hieß Udo, und sie wohnten zusammen in einem Zimmer. Udo hatte sich für vier Jahre zum Bund verpflichtet, aber weil die Kaserne gleich um die Ecke war, durfte er zu Hause schlafen. Wenn er nicht gerade im Bau saß, was allerdings häufiger vorkam. Beim letzten Mal hatten sie ihn alle Mann besucht und erst ein paar Runden Mau-Mau mit ihm gespielt und dann Käpt’n Nuss, bis die Flasche billiger Whiskey, die Kerschkamp an der Wache vorbeigeschmuggelt hatte, unwiderruflich leer war. Was nicht allzu lange gedauert hatte.

      Soweit Appaz sich erinnerte, war Udo da eingebuchtet, weil er ein paar Nächte zuvor schwer betrunken die Schaufensterscheibe von irgendeinem Fernsehladen eingeschlagen hatte und dann in aller Ruhe mit einem originalverpackten Fernseher unter jedem Arm die Fußgängerzone hochgetorkelt war. In Ausgehuniform!

      Aber jedenfalls hielt Udo Appaz und die anderen jetzt für seine besten Freunde, seit sie ihn im Bau besucht hatten, und wollte sie unbedingt managen. Sie hatten nämlich eine Band, Pain in the Ass, mit Lepcke als Sologitarristen, Buchmann am Bass und dem Dicken am Schlagzeug.

      Eigentlich hatte Kerschkamp Schlagzeug spielen sollen. Aber dann war der Dicke gekommen und hatte von einem Kumpel eine Gesangsanlage besorgt, womit die Sache klar war. Kerschkamp spielte jetzt noch bei zwei Songs Bongos, aber man hörte ihn kaum, weil sie nur ein Mikro hatten, und das brauchte Appaz zum Singen.

      Sie waren nicht gut, aber verdammt laut.

      Ratte spielte Rhythmusgitarre und konnte sich keinen Griff länger merken als für die nächsten zwei Stunden, von irgendwelchen Riffs ganz zu schweigen. Und der Dicke zerhackte regelmäßig ein paar Sticks pro Song. Trotzdem hatten sie immerhin schon drei Auftritte gehabt, den ersten auf einer Solidaritätsveranstaltung im Unabhängigen Jugendzentrum Kornstraße »gegen Entlassungen und Unterdrückungen«, und die beiden anderen bei irgendwelchen Dorffesten im »Gasthaus zur Eiche« in Ehlershausen, wo der Dicke einen Onkel hatte, der im Gemeinderat saß. Fast hätten sie auch noch auf einer Zigeunerhochzeit gespielt, hatten aber in letzter Minute wieder abgesagt, weil sie Schiss bekamen, dass Ratte sich an die Braut ranmachte und sie dann alle zusammen einen auf die Fresse kriegen würden.

      Ihren Übungsraum hatten sie im Keller unter dem Lebensmittelgeschäft von Buchmanns Eltern. Und wenn Udo Ausgang hatte und nicht gerade wieder irgendwo einen Bruch machte, hing er mit einer seiner ohne Ausnahme wasserstoffblond gefärbten Freundinnen bei ihnen im Keller rum und träumte von deutlich besseren Zeiten, in denen er ihnen als ausgebuffter Rockmanager richtige Konzerte mit gigantischen Gagen besorgen würde. Aber immerhin hatte er ihnen zunächst schon mal den Typen besorgt, der für hundert Mark bar auf die Kralle ihren Bus hintenrum durch den TÜV brachte. Mit Stempel und Plakette und allem, was dazugehört, ganz seriös.

      Das mit dem TÜV hatte Hansi nämlich irgendwie verpennt gehabt. Und auch Kerschkamp hatte nur durch Zufall gesehen, dass der Bus bereits seit drei Monaten überfällig war. Ihr daraufhin gestarteter Versuch, höchstpersönlich bei den Herren von der technischen Überwachung vorzufahren, war eigentlich schon nach dem ersten Blickkontakt zwischen Appaz und dem Prüfer gescheitert. Da hätte der Graukittel nicht erst noch seinen Schraubenzieher in den hoffnungslos durchgerosteten Seitenschweller bohren müssen.

      Für ihre Frankreichfahrt hatte Udo ihnen noch einen Suchscheinwerfer vom Bund mitgebracht, ein Riesending, das sie vorne genau in die Mitte des Daches schrauben wollten. Weshalb Appaz jetzt am Mittag nach ihrer kleinen Abiturfeier am Kiesteich Kerschkamp abholte und mit ihm zu dem Dicken nach Hause fuhr. Bei Ratte versuchten sie es gar nicht erst, »der soll lieber seine Eier kühlen«, sagte Kerschkamp nur, nachdem Appaz ihm von Rattes Anruf erzählt hatte.

      Der Dicke wohnte zwei Häuser neben Lepcke. Solange sein Vater zur Arbeit war, konnten sie den Bus vor die Garage stellen, sich Strom aus dem Keller holen und schrauben und basteln, ohne dass sich irgendjemand aufregte. Im Gegenteil, die Oma vom Dicken fand das sogar gut, weil sie ein bisschen Abwechslung in ihren Alltag brachten. Sie hockte immer hinter dem Fenster im ersten Stock und beobachtete jeden ihrer Schritte. Und immer, wenn einer von ihnen zufällig zu ihr hochguckte, hob sie die Hand und winkte. Sie winkten natürlich zurück. Die Oma vom Dicken war nett, da waren sich alle einig.

      Der Dicke war bei Telefunken und lernte Elektriker. Er hatte ihnen schon einen Spannungswandler für den Bus gebaut, von 220 auf 6 Volt, damit sie Kerschkamps Kassettenrecorder anschließen konnten. Eigentlich wäre der Dicke auch gern mit nach Frankreich gefahren, aber seit dem zweiten Auftritt in Ehlershausen hatte er eine Freundin, und nun wollte er doch lieber zusammen mit ihr irgendwo anders hin, erst Verwandte im Schwarzwald besuchen oder so was, und dann weiter nach Italien. Komischerweise hatten die beiden ausgerechnet Buchmann eingeladen mitzukommen. Und Buchmann hatte zugesagt.

      Aber im Moment musste der Dicke ihnen erst noch helfen, den Suchscheinwerfer zu montieren. Während Kerschkamp und Appaz also die letzten Fettplocken hinten aus dem Laderaum kratzten und Lepcke sein in der Nacht zuvor von Buchmann vollgekotztes Zelt mit einem Schlauch abspritzte, holte der Dicke eine Leiter und die Bohrmaschine von seinem Alten und legte los.

      Das Problem war nur, dass der Bus vorne in der Mitte so eine Art Lüftungstunnel hatte. Das Dach ragte ein wenig über die geteilte Windschutzscheibe hinaus und in dem Überhang befanden sich auf jeder Seite zwei Lüftungsschlitze, die den Fahrtwind in eben diesen Tunnel leiteten. In der Fahrerkabine gab es dann unter der Decke einen Hebel, mit dem man den Luftstrom wahlweise gleichmäßig zu den beiden Seiten oder insgesamt nach hinten lenken konnte.

      Aber nachdem der Dicke den Scheinwerfer fertig montiert hatte, war der Hebel blockiert und blies die Luft nur noch nach hinten. Trotzdem, der Scheinwerfer verpasste dem Bus ein ziemlich abenteuerliches Aussehen, und um das Ganze perfekt zu machen, malten ihm Kerschkamp und Appaz mit einem Rest schwarzer Farbe, den sie in der Garage gefunden hatten, »Heavy Tour 75« in Spiegelschrift auf die weiße Blechnase.

      Während sie noch am Pinseln waren, klärte Kerschkamp Appaz darüber auf, dass sie letzte Nacht am Kiesteich offenbar besprochen hatten, anstelle von Hansi einfach den Ami mitzunehmen. Appaz konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, aber Lepcke wusste auch Bescheid. Der Ami wohnte eine Straße weiter, und Lepcke meinte, dass er schon länger mitgewollt und sich nur nicht zu fragen getraut habe. Und was jetzt sei?

      »Keine Ahnung«, sagte Appaz. Er war sich wirklich nicht sicher. Einerseits war der Ami eigentlich ganz nett, aber andererseits irgendwie auch verdammt komisch. Da war nicht nur die Tatsache, dass er seine Haare als bleistiftkurzen Mecki trug, weshalb er ja eben »der Ami« hieß, sondern auch, dass Appaz im letzten Jahr vielleicht gerade mal ein oder zwei Sätze mit ihm gewechselt hatte. Den anderen ging es ähnlich. Was vor allem damit zu tun hatte, dass der Ami Tag und Nacht nur auf seiner Bude hockte und Platten hörte. Hauptsächlich Chick Corea und Herbie Hancock und solche Sachen, für die Appaz sich noch nie so richtig hatte begeistern können.

      »Denk dran, der Ami hat einen Führerschein«, sagte Lepcke und guckte Appaz so komisch von der Seite an, wie es seine Art war. Als wollte er noch irgendwas sagen. Aber es kam nichts mehr. Klar, nachdem Hansi und der Dicke ausgefallen waren, war Appaz jetzt der Einzige, der offiziell fahren durfte. Weil Kerschkamp und Lepcke noch keinen Führerschein hatten und Ratte schon zweimal durch die Prüfung gerasselt war.

      »Okay«, sagte Appaz, »wer fragt ihn?«

      »Hab ich schon gemacht«, sagte Lepcke, und Appaz dachte wieder mal, dass Lepcke ein ziemlich falscher Hund war. Der Dicke dachte offenbar das Gleiche.

      »Na, ist ja toll«, sagte er von seiner Leiter herab, und knurrte noch irgendwas vor sich hin, was sinngemäß darauf hinauslief, dass er jedenfalls nicht mit dem Ami Urlaub machen würde.

      »Brauchst du ja auch nicht«, sagte Lepcke, »und außerdem würde ich mir an deiner Stelle lieber Sorgen machen, dass dir Buchmann nicht auf die Rückbank kotzt.«

      »Ach ja?«, fragte der Dicke und stieg ganz langsam die Leiter herunter.

      Genau in dem Moment klopfte aber seine Oma oben ans Fenster, wahrscheinlich weil schon länger keiner mehr zu ihr hochgeguckt hatte und ihr langsam langweilig wurde. Sie winkten ihr also alle zu, bis sie wieder zufrieden war. Und dann

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