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Chef, ist so, hier in der Gegend.« Sie sah wehmütig die Straße hinunter. Sie hatte vor nicht allzu langer Zeit selbst hier gewohnt, genau in dieser Straße. Sie konnte das Haus sehen. Dann war die Sache mit Levent ernster geworden, und schließlich hatten sie sich gemeinsam eine Wohnung gesucht. Manchmal bereute sie diesen Schritt. Annabella Scholz war seit einigen Jahren mit dem türkischstämmigen Schauspieler Levent Demir liiert. Sie hatten sich über einen ehemaligen Kollegen aus Pfeffers Team, der Levents Schwester Aische geheiratet hatte, kennengelernt. Demir hatte es zu gewissen Ruhm als taffer Held einer billigen Krimi-Action-Serie gebracht und war dann zum ersten »Tatort«-Kommissar mit Migrationshintergrund aufgestiegen. Seitdem bekam er immer öfter größere Rollen in TV-Produktionen, nicht selten als rassiger Liebhaber. Mit steigender Popularität ging die stetig steigende Zahl weiblicher Fans einher und damit die stetig steigende Zahl von Annabellas Eifersuchtsanfällen. Ausgerechnet jetzt, wo sie … Sie verscheuchte den aufkeimenden Wutanfall mit einem Kopfschütteln. Aber er hatte ihre Beförderung zur Hauptkommissarin am Telefon neulich nur mit einem »Glückwunsch, Maus« abgetan und dann sofort wieder von den Dreharbeiten erzählt. ›Schauspieler sind Egomanen, nicht hineinsteigern‹, sagte sie zu sich selbst, und dann sagte sie zu Pfeffer: »Die alte Eigentümerin ist gestorben, und die Erben haben das Haus verkauft. Es leben noch drei Parteien drin, die lassen sich den Auszug mit viel Geld versüßen. Nächste Woche soll das Gerüst aufgestellt werden und der Umbau beginnen. Alle haben mir gesagt, dass sie mit der alten Kubelik wenig bis gar nichts zu tun haben, nichts zu tun haben wollten, weil sie sie … nun ja … eben asozial fanden. Sie haben sich gegenseitig ignoriert. Eine Nachbarin sagte mir, dass sie lange gegrüßt hat und es dann irgendwann aufgegeben hat, weil die Alte nie zurückgegrüßt hat. Sie hat immer weggeschaut, wenn sie jemand aus dem Haus traf. Und mit dem Begriff Himmelhaus konnte übrigens keiner was anfangen.«

      »Entmietung brutal?«, fragte Pfeffer unvermittelt. Seine Kollegin brauchte einen Moment, um das zu verstehen.

      »Kann sein. Du meinst, die Kubelik hat sich geweigert auszuziehen, und die neuen Eigentümer wollten sie schnellstmöglich loswerden? Klar, Chef, das ist eine Idee.«

      »Nur eine Idee.« Pfeffer trank einen Schluck und zog danach an der Zigarette. Die Latte-Macchiato-Mutter neben ihm setzte ihre laktosefreie Latte ab, lüpfte etwas die riesige Sonnenbrille, die ihr die Optik einer Stubenfliege gab, und fächelte demonstrativ den Rauch weg. Pfeffer lächelte ihr verbindlich zu. »Schwachsinn. Blöde Idee«, wandte er sich wieder an Annabella Scholz. »Passt gar nicht. Die Alte wurde um Weihnachten herum ermordet. Wenn die neuen Eigentümer den verbliebenen Mietern jetzt noch Geld anbieten, dann laufen die Verhandlungen also noch. Warum hätten sie dann schon vor vier Monaten die Kubelik töten sollen? Ergibt keinen Sinn.«

      »Ich hake trotzdem mal nach.«

      »Tu das. Weißt du, wenn an meiner Theorie was dran sein sollte, dass die ermordeten alten Damen irgendwie in einem Zusammenhang stehen, dann wäre ja unsere Erna Kubelik die erste Tote. Wir haben sie zwar als letzte gefunden, aber sie wäre das erste Opfer.«

      Annabella Scholz kannte ihren Chef lange genug. Sie mochte ihn, arbeitete gerne mit ihm zusammen, und sie liebte es besonders, wenn er anfing herumzuspinnen. Oft kam er auf die abstrusesten Ideen, fand Zusammenhänge, auf die sonst keiner gekommen wäre. Manchmal gelangte er damit zwar schnurstracks in den Wald und verhedderte sich im Dickicht seiner Gedankenspiele. Jedoch war er Manns genug, Kritik von anderen anzunehmen. Und er konnte auch selbstkritisch sein. Häufig genug hatte er höchst erfolgreich quer gedacht und mit seinen Theorien letztlich ins Schwarze getroffen. In diesem Fall aber merkte sie, dass er sich nur warmlief und noch längst nicht seine Höchstform erreicht hatte.

      »Warum erwürgt jemand alte Damen?«, sinnierte Pfeffer weiter.

      »Um sie auszurauben«, antwortete Annabella.

      »Warum durchsucht er dann nicht die Wohnungen nach weiteren Wertsachen, mal abgesehen von Helene Schneider. Warum so viele so kurz nacheinander?«

      »Weil sie arme Frauen waren und der Täter viel Geld brauchte.«

      »Möglich. Ach«, Pfeffer winkte ab, »konzentrieren wir uns auf Erna Kubelik. Hast du irgendwas in ihrer Wohnung gefunden, das auf entwendete Wertgegenstände hinweisen könnte?«

      Die Hauptkommissarin schüttelte den Kopf.

      Ein junger Kerl schlenderte vorbei. Die Schultern so breit, dass das eng geschnittene Hemd ein wenig spannte. Der Hintern knackig und fest wie ein frischer Apfel. Er schenkte Pfeffer ein kurzes Lächeln. Pfeffer lächelte zurück. Der junge Mann ging weiter, drehte den Kopf ein wenig und zwinkerte noch einmal im Gehen.

      »Wird Zeit, dass der Sommer kommt«, seufzte Pfeffer lächelnd. Sein Handy klingelte.

      08

      Therese Obermeier stützte sich schwer auf ihren Gehstock, den sie in der gichtigen Linken hielt. Das Gehen fiel ihr jeden Tag noch ein bisschen schwerer. Trotzdem machte sie sich täglich auf, die vier Stockwerke hinunterzusteigen und ihre kleinen Einkäufe zu erledigen. Am Sonntag ging sie einfach nur die Treppen hinunter und dann wieder hinauf. In Bewegung bleiben. Wer rastet, rostet – und landet schließlich im Pflegeheim. Davor hatte sie am meisten Angst. So lange sie es noch konnte, würde sie die vier Stockwerke packen. Therese Obermeier machte eine kleine Verschnaufpause und stellte ihr Einkaufsnetz mit dem Liter Milch, dem halben Brot, den drei Tomaten und der Cervelatwurst ab. Ein Rollator, nein, den würde sie auch weiterhin ablehnen. Selbst wenn ihr den ihr Sohn bei jedem Telefonat aufs Neue ans Herz legte. Was wusste schon ihr Sohn … Der lebte fern in Berlin und besuchte sie sowieso nur ein bis zwei Mal im Jahr. Öfter konnte er es sich nicht leisten, seit er seinen Job verloren hatte und nun auf die Verrentung wartete, weil niemand einem Neunundfünzigjährigen eine neue Stelle anbot. Noch dazu in Berlin, wo es sowieso keine Arbeit gab. Und die Enkel hatte sie das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen. Therese Obermeier seufzte und zupfte ihren Wintermantel aus dunkelblauem Plüsch, der an manchen Stellen zu abgewetzt war, um noch kuschelig zu sein, zurecht. Ihre Perücke juckte. Sie nahm ihr Einkaufsnetz hoch. Noch um die Ecke von der Augusten- in die Rottmannstraße, dann war sie da.

      Die alte Frau stieg bedächtig die knarzenden Stiegen hinauf. Einen Fuß auf die nächsthöhere Stufe, dann den anderen daneben. Mit der rechten Hand zog sie sich am Treppengeländer hoch. Ihr begegnete niemand. Wie auch. Sie war die letzte alte Mieterin im Haus. Außer ihr wohnten nur noch junge Leute hier, die gute Jobs hatten, weshalb sie von denen praktisch nie jemand tagsüber zu Gesicht bekam. Eigentlich schade, denn sie ratschte gerne ein bisschen, vor allem mit den beiden netten jungen Frauen, die sich die Wohnung im zweiten Stock teilten. Eine von denen kam ab und an abends bei ihr vorbei auf einen Plausch und um nach dem Rechten zu sehen. Und die Frau vom ambulanten Pflegedienst, die jeden Abend ihr offenes Bein versorgte, war immer zu sehr in Eile für einen Schwatz. Schwer atmend erreichte Therese Obermeier den vierten Stock und wühlte in der Manteltasche nach dem Schlüssel. Sie öffnete das Türschloss und das Sicherheitsschloss, nahm ihre Einkäufe hoch und wollte eben den ersten Fuß in die Wohnung setzen, als sie von hinten ein Stoß traf. Therese Obermeier taumelte vorwärts, ließ das Netz fallen und versuchte, sich irgendwie abzufangen. Noch bevor sie auf dem Boden aufschlug, fingen kräftige Hände sie auf. Es war das Letzte, was Therese Obermeier spürte.

      Max Pfeffer schlenderte die Backsteinmauer entlang durch den Schlachthof. Kindheitserinnerungen wurden wach. Er schob sie beiseite. Weiter vorne in der Zenettistraße hatten seine Eltern ihre Reinigung betrieben. Das Letzte, an das er denken wollte, waren seine Eltern. Er bog beim Wirtshaus links in den Teil, der längst nicht mehr als Schlachthof genutzt wurde, sondern an verschiedene Gewerbe vermietet war, meist an Lebensmittelgroßhändler. Aber auch die Kunstgroßhandlung Menzl. Verena Klein hatte ihm vorhin am Telefon den Weg beschrieben. Pfeffer fand das Gebäude sofort. Verena Klein erwartete ihn vor dem Eingang.

      »Tut mir leid, dass ich Sie hierher bemühen musste«, sagte sie zur Begrüßung.

      »Kein Problem«, antwortete Pfeffer. Die junge Frau fror augenscheinlich. Sie verschränkte sofort nach dem Händeschütteln die Arme und begrub die Hände unter den Achseln. Sie war Ende zwanzig, hübsch und zierlich, aber sie strahlte Durchsetzungskraft aus. Sie

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