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gutes Team, fast so etwas wie eine große Familie, und ich kam an den meisten Tagen pünktlich nach Hause.

      Auch privat lief bei mir alles nach Wunsch. Ich war verheiratet, hatte fünf entzückende Kinder, und wenn ich morgens aufstand, wusste ich genau, was mir der Tag bringen würde. Nach den Tagdiensten verbrachte ich gemütliche Abende zu Hause, und nach den Nachtdiensten saß ich manchmal ganze Vormittage mit Freundinnen in Cafés, wo wir frühstückten und über Gott und die Welt redeten.

      Ich mochte dieses Leben, weil ich schon immer einen Hang zur Gemütlichkeit gehabt hatte. Schon in der Schule hatte ich gerne den Sport geschwänzt, um stattdessen mit Gleichgesinnten im Kaffeehaus zu sitzen. Ich machte mich auch einfach nicht gut im Sport. Ich war das Mädchen, das sich beim Volleyball aus Furcht vor dem Ball bückte. Wenn es darum ging, an den Seilen hochzuklettern, schaffte ich es mit meinen Spaghetti Armen keine zehn Zentimeter vom Boden weg. Doch auch ohne Sport hatte ich mich immer wohl in meiner Haut gefühlt. Bewegung machen bedeutete für mich jetzt, mit den Kindern in den Park zu gehen.

      An meinen freien Tagen machte ich es mir am liebsten zu Hause bequem, las ein paar Zeitschriften, setzte mich vor den Fernseher oder sah mir auf meinem iPad meine Lieblingsserien »2 Broke Girls« und »Two and a Half Men« an, während ich Mikrowellenpopcorn aß.

      Oft kamen meine Freundinnen zu Besuch. Für meine Kinder waren sie wie Tanten. Dann drängten wir uns alle um den kleinen Küchentisch und tranken, je nach Tageszeit, Milchkaffee oder Rotwein. Manchmal lief eine von uns zum Italiener und holte Pizza für alle. Wenn Gregor, mein Mann, nach Hause kam, war die Pizza immer schon weg und wir alle ziemlich betrunken. Es war nicht nur ein angenehmes und ruhiges, sondern auch ein fröhliches Leben und meine laufende Ausbildung zur Psychiaterin brachte ich auch noch unter.

      Doch jetzt musste ich im Rahmen eines Austauschprogrammes für ein Jahr an eine größere Klinik, um dort kompliziertere Fälle zu sehen, als die, mit denen ich sonst zu tun gehabt hatte, und um noch mehr praktische Erfahrung zu sammeln. Ich kannte den Arbeitsalltag in solchen Abteilungen bis dahin nur vom Hörensagen. Dort gab es endlose Dienste und viel Stress, eine Kombination, die mich noch nie gereizt hatte. So motiviert konnte ich in Sachen Karriere gar nicht sein, um unbezahlte Überstunden ein paar Drinks mit Freundinnen vorzuziehen. »Du bist dort ja nur Gast, nur eine Art Zuschauerin«, sagte Gregor zu mir, »das Jahr wird sicher schnell vorbeigehen.«

      Ich war damals weder dick noch gertenschlank. Nach meiner letzten Schwangerschaft hatte ich relativ rasch wieder abgenommen. Sicher hätte meine Taille etwas schöner geformt sein können und wie alle meine Freundinnen dachte ich, dass ich mit fünf Kilo weniger den absoluten Traumkörper hätte, aber im Grunde war ich ganz zufrieden mit mir. Das sollte sich nun bald ändern.

      Während der ersten Tage in meinem neuen Job fühlte ich mich tatsächlich noch wie ein Gast. Ich redete mir ein, dass mich die Probleme dieser Abteilung nichts angingen, doch diese Einstellung hielt ich nicht lange durch. Nachdem ich einige Tage bis tief in die Nacht Überstunden gemacht hatte, nur um die ganz normale Routinearbeit zu erledigen, wurde mir klar, dass dies ein sehr langes Jahr werden würde. Es lag auf einmal wie eine Ewigkeit vor mir.

      Wenn ich abends endlich nach Hause kam, war ich so gestresst, dass ich, noch während ich das Abendessen zubereitete, zur Beruhigung ein großes Stück Baguette mit Nutella essen musste. Morgens brauchte ich zwei Schokocroissants und zwei große Tassen Milchkaffee, um einigermaßen in die Gänge zu kommen. Ich wollte einfach nicht in diese Klinik.

      Rasch gewöhnte ich mir an, zwischendurch Sandwiches oder Kuchen zu essen. Oft bestellte ich, wenn wir gemeinsam mit den Krankenschwestern zu Mittag Pizza bestellten, eine extra Pizza auf Vorrat, weil ich nie wusste, wie lange der Dienst in den Abend hinein dauern würde. Zwischen den Patientengesprächen fing ich an, alles zu essen, das ich zwischen die Finger bekam. Nach nur zwei Wochen in der neuen Abteilung hatte ich drei Kilo zugenommen.

      »Blödsinn«, sagte Gregor, als ich ihm mein Problem schilderte. »Du hast einfach zu salzig gegessen und zu viel Wasser im Körper. Das sind diese Baguettes. Wenn du sie weglässt, hast du gleich wieder dein normales Gewicht.«

      Doch mir war als Gehirnspezialistin der verhängnisvolle Zusammenhang zwischen Stress und Körpergewicht nur allzu bekannt. Unter Stress bilden wir das Hormon Cortisol. Das kann Stress am Arbeitsplatz sein, aber auch psychischer Stress, etwa eine Beziehungskrise, finanzieller Druck, ein familiäres Problem oder auch körperlicher Stress, ausgelöst durch einen zu niedrigen Blutzuckerspiegel. In einer Stresssituation sendet die Großhirnrinde Signale an den Hypothalamus. Dort beginnt eine chemische Reaktion, die über die Hypophyse, die Hirnanhangdrüse, läuft und mit der Bildung von Cortisol in der Nebennierenrinde endet.

      In der Steinzeit, für deren Anforderungen unser Körper nach wie vor programmiert ist, hatte das Cortisol die Aufgabe, in Stresssituationen, wie etwa der Mammutjagd, einen Energieschub zu gewährleisten. Cortisol erzeugt Energie, indem es bestimmte Stoffwechselvorgänge aktiviert.

      Dieser Prozess hat allerdings einige ziemlich unangenehme Nebenwirkungen. Ist der Cortisolwert längerfristig erhöht, kann es zu einem Muskelabbau mit Muskelschwund und allgemeiner Schwäche kommen. Außerdem verändert Cortisol die Blutsalze, was eine verstärkte Wasserbindung im Körper bedingt. Dadurch steigen der Blutdruck und das Gewicht.

      Zudem setzt Cortisol Fettsäuren aus den Fettzellen frei. Das hört sich gut an, ist es aber nicht. Wenn der Körper die viele Energie nicht verwertet, wandern die Fettsäuren wieder in die Fettzellen, die sie erneut speichern, nun aber vorwiegend in den Fettspeichern der Bauchregion und im Gesicht. Dauerhaft zu viel Stress macht uns also zu Michelin-Männchen mit Mondgesichtern.

      In der Steinzeit waren diese Mechanismen kein Problem. Durch die intensive körperliche Betätigung während der Stressphasen haben die Menschen damals die vom Cortisol bereitgestellte Energie gleich verbraucht. Auf kurze Stressphasen folgten außerdem lange Ruhephasen und keine andauernden finanziellen Belastungen, keine chronische Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, kein unaufhörliches Multitasking und es herrschte nicht die Bewegungsarmut, die heute unsere Zivilisation prägt.

      Wir dagegen haben mit den Nebenwirkungen des Cortisol ein Problem und bei mir war es ein besonderes großes. Studien über den Cortisolspiegel von Ärzten während Nachtdiensten belegen, dass er unverändert hoch ist, egal, ob der Arzt einen ruhigeren Nachtdienst hat und zwischendurch schlafen kann oder ob er fünfundzwanzig Stunden operieren muss. Der Organismus des Arztes ist durch die ständige Rufbereitschaft in einem dauernden Alarmzustand. Das betrifft nicht nur Ärzte, sondern alle Menschen, die ständig abrufhar sein müssen, etwa auch Verkäufer, Kassierer oder Taxifahrer.

      Doch mein Stress wuchs weiter. Das lag nicht an den anderen Ärzten dieser Abteilung. Viele von ihnen waren ganz nett und einige waren sogar richtig lustig. Es waren die Arbeitsbedingungen, die ich so schwer ertrug. Es kamen zu viele Patienten, wir waren zu wenige Ärzte, und keiner von den wenigen blieb lang. Die meisten waren weg, sobald sie etwas Besseres fanden, und manche verschwanden schon nach zwei Wochen wieder. Bloß ich hatte keine Wahl. Ich musste ein ganzes Jahr bleiben. Diese Ewigkeit von einem Jahr.

      Ich war ständig vollkommen erschöpft. Oft hielt ich am Heimweg bei einer Bäckerei und verschlang die Mehlspeisen, die ich mir gekauft hatte, noch auf der Straße. Sie waren meine Belohnung für den Stress. Der Zucker beruhigte mich auch wirklich, ich konnte es spüren.

      Dann wurde einer meiner Kollegen ständig krank und wir anderen mussten uns auch noch seine Arbeit und seine Nachtdienste teilen. Ich schlief immer weniger und hatte das Gefühl, das ganze Leben würde mir entgleiten. Ich vergaß Rechnungen zu bezahlen und bekam Mahnungen. Ich war immer zerstreut und verlor ständig etwas. Ich ließ die Handyhülle in der U-Bahn liegen, warf meinen Arztmantel samt dem Schlüssel in die Wäsche und verlor mehrere Sonnenbrillen. Nach einem Vortrag über Psychopathologie ließ ich einmal Gregors hundert Euro teuren Super-Spezial-Laserpointer liegen und fand ihn nie wieder. Mehrmals sperrte ich mich aus unserer Wohnung aus und musste quer durch die Stadt zu Gregor ins Büro fahren, um mir seinen Schlüssel zu holen.

      Die Stationssekretärin unserer Abteilung hatte in ihrem Schreibtisch eine große Lade, die wir »die Notfall-Abteilung« nannten. Die ganze Lade war randvoll mit Schokolade

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