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dauerte nicht mehr lange, bis das Unwetter das Tal erreichen würde, doch noch war es windstill und unerträglich schwül.

      »Guten Tag, Kripo Kempten, Hauptkommissarin Grothe«, stellte sich Jessica vor, als die kunstvoll mit kleinen bunten Glasscheiben verzierte Tür sich nach mehrmaligem Klingeln endlich öffnete und eine Frau in einer karierten Schürze ihr gegenüberstand. Jessica hielt der Frau ihren Dienstausweis entgegen. »Frau Rothausen?«

      Diese nickte zögernd. Jessica schob ihren Dienstausweis zurück in die Hosentasche und bat darum, eintreten zu dürfen.

      »Natürlich. Bitte kommen Sie herein. Was ist denn passiert?« Gertrud Rothausen führte Jessica in die gemütliche Wohnküche. Am großen Esstisch saßen zehn Personen und aßen zu Mittag. Es duftete nach frischem Kartoffelsalat und Würstchen. »Das ist Hauptkommissarin Grothe von der Kemptener Polizei«, stellte sie Jessica vor und zeigte auf den ältesten der Männer am Tisch. »Das ist mein Mann Karl.«

      Karl Rothausen sah Jessica missmutig an, legte seine Gabel sorgsam auf dem Tellerrand ab und erhob sich grummelnd. Anstatt die Hauptkommissarin zu begrüßen, blickte er sich langsam in der Runde um. »Wer von euch depperten Trotteln hat die Polizei gerufen? Der kleine Brand in der Scheune ist zwar ärgerlich, aber mit Sicherheit kein Fall für die Kripo. Das klären wir hier schon selbst, werte Frau Kommissarin. Danke, aber Sie können gleich wieder gehen. Dann sind Sie noch vor dem Unwetter zurück in der Stadt.«

      »Es hat gebrannt bei Ihnen?«, fragte Jessica verwundert. Sie machte keine Anstalten, die Küche zu verlassen. »War es Brandstiftung?«

      Karl Rothausen sank seufzend auf seinen Stuhl zurück und verdrehte genervt die Augen. »Wenn Sie nicht wegen des Feuers hier sind, was wollen Sie dann? Ist eine unserer Kühe stiften gegangen und hat Nachbars Garten verwüstet?«

      Einer der jungen Männer am Tisch lachte, verstummte jedoch augenblicklich, als Karl Rothausen streng zu ihm hinübersah.

      »Ich habe von dem Älpler Georg Bruchstein erfahren, dass ein Großteil der Rinder auf seiner Alpe von Ihrem Hof stammt. Ist das richtig?«, wollte Jessica wissen.

      Karl Rothausen erbleichte und fragte erschrocken: »Ist etwas mit Henriette?«

      »Wer ist Henriette?« Jessica sah ihn verwirrt an. »Es geht um den Toten, den wir vor einer Woche auf der Alpe gefunden haben. Wird denn eine Henriette vermisst?« Sie dachte angestrengt nach. In den Unterlagen von Florian war ihr dieser Name nicht untergekommen. Doch Florian war häufig nicht besonders gründlich und ließ für ihn unwichtige Details in seinen Berichten oft einfach weg. Vielleicht hieß die Frau des Älplers Henriette?

      Der Gesichtsausdruck des Hausherrn wechselte von Erschrecken in absolutes Entsetzen. »Sie haben einen Toten auf der Alpe gefunden?«, brachte er heiser heraus und sah zu seiner Frau Gertrud hinüber, die beide Hände vor ihren Mund schlug und die Hauptkommissarin angstvoll anstarrte.

      »Entschuldigen Sie. Ich dachte, Sie wüssten davon. So etwas spricht sich doch eigentlich immer schnell herum«, erklärte Jessica. »Der junge Mann, den wir tot aufgefunden haben, heißt Viktor Weixler. Entgegen unserer anfänglichen Vermutung, er sei in einen Felsspalt gestürzt und tödlich verunglückt, können wir nun mit Sicherheit sagen, dass er ermordet wurde. Deshalb bin ich hier.«

      »Aha«, sagte Karl Rothausen nach kurzem Zögern und klang wieder abfällig. Von seinem Entsetzen war nichts geblieben. »Den Herrn kenne ich nicht. Tragisch, dass er tot ist, aber damit hat hier niemand etwas zu tun. Wenn Sie uns jetzt entschuldigen, werte Frau Kommissarin, aber wir würden gern weiteressen. Die Arbeit auf dem Hof macht sich nicht von allein und ein Gewitter zieht auf. Die Tiere müssen in die Ställe.«

      Jessica ließ sich nicht so leicht hinauskomplimentieren, bestand auf eine Einzelbefragung aller anwesenden Personen und zog damit erneut den Unmut des Hausherrn auf sich.

      Viel Information bekam sie nicht. Die zehnköpfige Gruppe, von denen zwei die Nachbarn der Familie Rothausen waren, schien eine eingeschworene Gemeinschaft zu sein. Niemand konnte ihr die merkwürdige Reaktion von Karl Rothausen erklären. Niemand wusste Näheres zu dem angeblichen Feuer und niemand kannte Viktor Weixler, den Toten aus der Felsspalte.

      Immerhin erfuhr Jessica, dass es sich bei besagter Henriette um eine preisgekrönte Kuh handelte, die zusammen mit ihrem Kalb als einzige Milchkuh den Sommer auf der Kluxhagener Alpe bei Georg Bruchstein verbrachte. Eine der Töchter von Karl Rothausen zeigte Jessica stolz die vielen gerahmten Auszeichnungen von Henriette, die im Büro eine ganze Wand zierten.

      Als Jessica nach über einer Stunde schließlich das Bauernhaus verließ, tobte der Sturm direkt über dem Hof. Der heftige Regen peitschte ihr ins Gesicht, und der Wind riss an ihrem T-Shirt, das nach wenigen Metern komplett durchnässt war und ihr unangenehm am Körper klebte. Sie wischte sich die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht, zog ihren Autoschlüssel aus der Hosentasche, betätigte noch im Laufen die Zentralverriegelung, riss die Tür auf und sprang ins Auto.

      Das Smartphone auf dem Beifahrersitz begann im gleichen Moment zu klingeln, in dem die Tür zuknallte. Der Regen schlug so heftig auf das Auto nieder, dass man es unter dem permanenten Dröhnen kaum hörte.

      »Was gibt’s?«, rief Jessica ins Telefon und startete den Wagen.

      »Himmelherrgott, was ist denn bei dir los?«, hörte sie Florians Stimme. »Bist du auf einem Truppenübungsplatz in einen Hinterhalt geraten und stehst unter Dauerbeschuss? Ich dachte, du wärst auf einem Bauernhof.«

      »Es regnet«, sagte Jessica nur und versuchte mit der freien Hand, das nasse T-Shirt bestmöglich zu trocknen, indem sie es anhob und die heiße Luft von der Lüftungsanlage unter das Kleidungsstück blasen ließ. »Was willst du?«

      »Kommst du gleich wieder ins Büro? Hier wartet jemand, der mit dir sprechen will.«

      »Wer denn?«

      »Der Mann heißt Michael Mühlbrunner. Er will sich nach dem Toten von der Alpe erkundigen. Ich konnte ihm nicht weiterhelfen. Hast du inzwischen von Ewe die Todesursache erfahren? Konnte die Rechtsmedizin den Toten identifizieren?«

      »Ja, aber das bereden wir später. Jetzt habe ich ein ganz anderes Problem«, sagte Jessica und seufzte verzweifelt. »Ich kann so nicht ins Präsidium kommen und muss erst nach Hause. Ich brauche eine halbe Stunde bis Kempten und mindestens noch einmal so lang, wenn ich nach Hause fahre, um mich umzuziehen. Ich bin durch und durch nass.«

      Florian schwieg.

      »Hast du mich verstanden, Florian?«, fragte Jessica ungehalten. »Mein T-Shirt klebt an meinem Körper und trieft vor Nässe. So kann ich niemandem unter die Augen treten. Meinst du, dieser Herr Mühlbrunner wartet eine ganze Stunde auf mich?«

      Eine lange Pause entstand.

      »Hallo? Bist du noch dran?«

      Noch immer sagte Florian nichts, doch Jessica meinte, einen Laut zu hören. Es klang wie ein kurzes, unterdrücktes Lachen. Dann wurde es still. Sie hörte ihn förmlich grinsen.

      »Kannst du Herrn Mühlbrunner bitten, auf mich zu warten?«, versuchte sie es erneut und wendete das Auto auf dem Hof vor dem Bauernhaus. Sie wollte so schnell wie möglich zurück nach Kempten und endlich aus den nassen Klamotten heraus.

      »Ach, der wird schon warten. Hast du etwas dagegen, wenn ich auch kurz nach Hause komme? Es wäre mir eine Freude und ein unbändiges Vergnügen, dich in deinem nassen T-Shirt zu sehen … ähm … dir aus dem nassen T-Shirt zu helfen, meine ich.« Jetzt lachte er laut.

      »Da habe ich eine bessere Idee«, schlug Jessica vor, lenkte ihren Wagen durch das große Hoftor auf die Straße und gab Gas. »Du scheinst gerade Zeit zu haben. Fahr du bitte nach Hause und hol mir etwas Trockenes zum Anziehen. Wir treffen uns in einer halben Stunde in der Dienststelle.«

      »Es ist mir egal, wo wir uns treffen. In jedem Fall werde ich mir die Sache ganz genau ansehen und darauf achten, dass du dich aus- … ähm … umziehst. Ich will schließlich nicht, dass du dich erkältest.«

      *

      »Entschuldigen

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