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den Mann in der Felsspalte erkannt? Sind Sie immer allein auf der Hütte?«

      »Den Mann kenne ich nicht. Das hoffe ich zumindest, denn man kann ihn nicht vollständig sehen. Der Körper liegt mit dem Gesicht nach unten zwischen und teilweise unter den Felsen. Es müssen sich ein paar größere Steinbrocken gelöst haben und auf ihn gefallen sein. Das Gestein ist an manchen Stellen der Klamm recht locker«, erklärte Bruchstein und ging mit weit ausholenden Schritten auf den besagten Zaun zu. »Und ja, ich bin hier oben fast immer allein. Die Schumpen und ich verbringen den ganzen Sommer in den Bergen. Insgesamt über drei Monate. Manchmal bekomme ich Besuch von meiner Frau und meiner Tochter. Sie bleiben dann ein paar Tage auf der Alpe.«

      »Aber zurzeit …«, begann Florian, wurde jedoch sofort unterbrochen.

      »Seit zwei Wochen bin ich allein. Wer von Ihnen will jetzt hinabsteigen?« Georg Bruchstein hielt das Seil herausfordernd in die Höhe.

      Das Ende des dicken Taus lag neben ihm im Gras. Florian hatte sich am Rand des Abgrundes auf einen flachen Stein gesetzt, stützte die Ellenbogen auf den Knien ab und schaute zu Erwin Buchmann hinunter, der ungesichert am Grund der Bergspalte zwischen den Felsen herumkletterte und schließlich die Leiche erreichte.

      Angenehm war der Anblick des toten Körpers nicht. Selbst von hier oben erkannte Florian die eingedrückte Schädeldecke am Hinterkopf der Leiche. Der Nebel hatte sich verzogen, die Sonne stand hoch am Himmel und ihr Licht erhellte den Spalt bis in die entferntesten Tiefen. Man konnte sehen, dass die Arme und Beine des Toten mehrfach gebrochen und unnatürlich verrenkt wie die Tentakel eines Kraken zwischen den Steinen lagen. Den größten Teil seines Rückens bedeckte ein schwerer Stein in der Größe einer Wassermelone. Immerhin war nirgends Blut zu sehen. Der Regen der letzten Nacht hatte alle Verletzungen und Schnittwunden an Armen und Hals ausgespült und gesäubert, sodass nur noch wunde rote Löcher in der Haut zu sehen waren.

      Der Rechtsmediziner legte prüfend seine Finger an die Halsschlagader der abgestürzten Person, sah zu Florian hoch und schüttelte den Kopf.

      »Hat ihm jemand auf den Schädel geschlagen?«, wollte der Hauptkommissar wissen und schaute kurz zu Georg Bruchstein, der neben ihm stand und ebenfalls hinunterblickte. »Vielleicht mit einem Stein?«

      »Das kann sein«, bestätigte Ewe und sah sich die Kopfverletzung des Toten genauer an. »Aber den Schädelbruch kann sich der junge Mann auch durch den Sturz zugezogen haben, genau wie die Arm- und Beinbrüche.«

      »Ein junger Mann also. Wie alt schätzt du ihn?« Florian ließ seine Füße über dem Abgrund baumeln und beugte sich ein kleines Stückchen vor. »Woran erkennst du sein Alter? Du kannst doch sein Gesicht gar nicht sehen.«

      »Ich habe keine Ahnung, wie alt er ist«, brummte Ewe genervt. »Der Mann trägt ein sehr buntes Paar Turnschuhe, wie sie junge Leute bevorzugen. Auch der Sidecut, diese an einer Seite komplett rasierte Frisur, lässt auf einen jüngeren Menschen schließen. Ich stelle nur Mutmaßungen an«, erklärte er. »Ich brauche meinen Koffer.«

      Die Bergung der Leiche gestaltete sich äußerst schwierig.

      Zuerst musste Florian ein ganzes Stück den Pfad hinunterlaufen, um mithilfe seines Smartphones die örtliche Bergrettung mit einem Hubschrauber anzufordern. Mit dem großen Transporter der Rechtsmedizin konnten sie den steilen Hang nicht hinauffahren. Ebenso war es nahezu unmöglich, die Leiche auf einer Trage über den Feldweg den Berg hinunterzuschaffen. Selbst ein Geländewagen mit viel PS und Vierradantrieb würde den steilen Anstieg kaum bewältigen.

      Erst über eine Stunde später traf der Hubschrauber ein und landete direkt neben der kleinen Alphütte.

      Der Älpler Georg Bruchstein hatte indes seine Herde in höhere Berglagen getrieben, um sie dem Stress der lauten Rotorblätter des Rettungshubschraubers nicht auszusetzen. Zwei Bergretter stiegen schließlich in die schmale Felsspalte hinab und stellten fest, dass sie die mitgebrachte Trage nicht verwenden konnten. Es war unmöglich, sie an den Seilen die Felswand hinaufzuziehen, ohne dass der darauf liegende Leichnam beschädigt wurde. Deshalb legten sie den Toten in eine Plane, banden diese zusammen und zogen das Paket so behutsam und langsam wie möglich hinauf. Die ganze Aktion dauerte mehrere Stunden.

      Erst am späten Nachmittag war die Bergung abgeschlossen.

      4

      »Du bist wirklich ein Idiot. Ich habe dir genaue Anweisungen gegeben, und was machst du? Ich dachte, ich kann mich auf dich verlassen und du wärst endlich so weit. Aber du bist der Worte nicht wert, die ich hier sinnlos verliere.«

      Die Standpauke, die er sich anhören musste, dauerte bereits 20 Minuten, und wann immer er versuchte, sich zu rechtfertigen, wurde er lautstark unterbrochen und wütend niedergeschrien.

      »Ich dachte …«, startete er einen erneuten Versuch, verstummte jedoch augenblicklich, als er in das grimmige Gesicht sah. »Es tut mir leid. Ich verspreche, beim nächsten Mal …«

      »Beim nächsten Mal?« Die wütende Stimme überschlug sich fast. »Ein nächstes Mal wird es so schnell nicht geben. Ich habe dir eingebläut, dass es beim ersten Mal klappen muss. Habe ich dir gesagt, es muss beim ersten Mal klappen?«, wiederholte er rhetorisch. »Du bist ein Idiot. Was soll nur aus dir werden?« Er ging mit weit ausholenden Schritten und erhobenem Haupt durch das halb dunkle Zimmer wie ein General, den Blick starr geradeaus, aufrecht, die Hände hinter seinem Rücken ineinandergelegt. »Du hast mir dein Wort gegeben«, rief er in das Zimmer, ohne den jungen Mann anzusehen. »Und ich gab dir meins. Wenn meine Anweisungen noch ein einziges Mal derart stümperhaft und ohne den gewünschten Erfolg ausgeführt werden, ist nicht nur unsere Abmachung gestorben«, drohte er, blieb stehen und sah ihn streng an. »Ich hoffe, wir verstehen uns.«

      Der junge Mann nickte, trat einen Schritt zurück, senkte den Kopf und starrte auf den Boden. »Ich habe verstanden. So ein Fehler wird nie wieder vorkommen.«

      *

      Gegen 19 Uhr traf Florian wieder zu Hause ein und wurde stürmisch von Svenja und Tobias begrüßt, den Kindern von Susanne, Jessicas verstorbener Schwester. Seit drei Jahren waren die beiden in seiner und Jessicas Obhut, und er liebte sie inzwischen so, als wären es seine eigenen. Da der jüngere Tobias nach den Sommerferien in die zweite Klasse kam, wäre es langsam höchste Zeit für ein Geschwisterchen. Für Florian war die Sache glasklar. Zuerst würde er Jessica heiraten, dann die beiden Kinder adoptieren, die seit dem letzten Jahr Vollwaisen waren. Und in nicht allzu ferner Zukunft hätte er gern ein oder zwei weitere Kinder. Jessica ahnte von seinem Plan nichts. Florian wusste aber, dass sie an einer Adoption ihrer Nichte und ihres Neffen nichts auszusetzen hatte. Bei allem anderen war er sich nicht so sicher.

      »Du kommst spät«, stellte Jessica ohne die Spur eines Vorwurfes fest, als sie die Treppe herunterkam und ihm zur Begrüßung einen Kuss gab. »Hast du Hunger? Ich kann dir die Reste vom Mittagessen aufwärmen.« Sie schickte die Kinder nach oben und ging in die Küche. »Es gibt Erbsen und Wurzeln und Frikadellen.«

      »Fleischküchle«, korrigierte Florian augenzwinkernd und folgte ihr in die Küche. »Und es heißt Möhren oder gelbe Rüben.«

      »Die gelben Rüben sind aber orange. Und wenn du etwas essen willst: Es sind nur Frikadellen da!« Sie grinste breit und zwinkerte ihm ebenfalls zu.

      »Was auch immer. Hauptsache Nahrung.« Er gab sich geschlagen. »Ist meine Mutter heute nicht zu Hause?«

      Maria Forster, der das alte Stadthaus in Kempten gehörte, in dem sie alle lebten, und die im unteren Stockwerk zwei Zimmer mit Bad und schöner Terrasse bewohnte, leistete ihnen abends beim Essen häufig Gesellschaft in der gemeinsamen Küche.

      »Sie ist spazieren gegangen«, berichtete Jessica, holte den aufgewärmten Teller mit dem Gemüse und den Frikadellen aus der Mikrowelle und platzierte ihn vor Florian auf dem Tisch. »Aber du solltest dich dringend einmal mit ihr unterhalten, wenn sie zurückkommt.«

      »Wieso? Habt ihr euch gestritten?«

      »Quatsch.« Jessica schüttelte verständnislos den Kopf. »Maria war heute irgendwie komisch, ist jedem Gespräch ausgewichen und hatte

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