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dich erst.«

      Er zog einen Besucherstuhl heran. Lindt ließ sich darauf fallen und überflog die Zeilen. Dabei entwich alle Farbe aus seinem Gesicht und er rang nach Luft. Mehrmals las er, was er nicht glauben konnte, schüttelte immer wieder den Kopf und sagte dann leise klagend: »Wieso der Franz? Wieso ausgerechnet der Franz?« Tränen traten in die Augen des Kommissars. Er verstummte.

      Schwer atmend stand er auf, wankte zu seinem eigenen Schreibtisch, ließ sich dort nieder und legte die inzwischen verlöschte Pfeife in den Aschenbecher. »Nicht der Franz, nein, nicht der. Das macht doch keinen Sinn«, gab er kaum hörbar von sich und schüttelte weiterhin ein ums andere Mal den Kopf. »Ausgerechnet der Franz. Jetzt hab ich schon so oft mit ihm …«

      Sein Tischtelefon signalisierte einen eingehenden Anruf. Lindt las die Vorwahl ›0741‹ – Das würde doch nicht … Er zögerte, abzuheben.

      Dann nahm er das Gespräch doch an, und seine Befürchtung wurde wahr.

      »Staatsanwaltschaft Rottweil, ich verbinde Sie mit der Frau Oberstaatsanwältin«, meldete sich eine warme Frauenstimme.

      Wenige Sekunden später änderte sich die Stimmlage am Ohr des Mordermittlers grundlegend.

      »Lindt, ich brauche Sie«, klang es schneidend scharf aus dem Hörer. »Lindt, hören Sie mir zu? Sie sagen ja gar nichts.«

      »Ich höre und ich habe es gerade gelesen«, antwortete der Kommissar tonlos.

      »Also, dann dürfte Ihnen der Grund meines Anrufes klar sein.«

      »Sind Sie die ermittelnde Staatsanwältin?«

      »Blöde Frage, saublöde Frage«, kam zurück. »Würde ich sonst anrufen?«

      »Und Sie wollen wirklich mich? Ausgerechnet mich?«

      »Lindt, lassen wir die Vergangenheit ruhen. Wir haben uns gezofft – und wie wir uns gezofft haben, aber jetzt gibt es keine Alternative. Sie müssen übernehmen.«

      »Ich muss?«

      »Ja! Dienstliche Anweisung. Mit Ihrem Chef spreche ich noch.«

      Kriminalhauptkommissar Oskar Lindt atmete tief durch. »Ich bin befangen. Franz-Otto Kühn war für mich weit mehr als ein Kollege. Er war wie ein Freund, ein guter Freund.«

      »Weiß ich!«, kam ganz kurz zurück. »Gerade deshalb brauche ich Sie als leitenden Ermittler in diesem Fall. Genau deshalb. Sie kannten ihn sehr gut, aber haben trotzdem die nötige Distanz.«

      »Distanz? Nie und nimmer!«

      »Räumlich, meine ich.«

      »Wieso? Vermuten Sie …?«

      »Genau. Es gab interne Probleme. Aber mehr sage ich Ihnen nur persönlich. Direkt in Freudenstadt.«

      »Sind Sie vor Ort? Die Telefonvorwahl zeigt Rottweil …«

      »Klar bin ich da, wo es brennt. Das Büro hat nur auf mein Handy verbunden. Also, wann kommen Sie?«

      Der Kommissar atmete tief durch. »Wir können gleich losfahren.«

      »Wir? Nein, Sie kommen alleine. Zumindest vorerst.«

      Lindt holte tief Luft, erkannte aber, dass ein Protest, jedenfalls im Moment, keinen Erfolg haben würde, und antwortete: »In zwei Stunden bin ich dort. Treffpunkt?«

      »Freudenstadt, Waldparkplatz Teuchelwald. Sagt das Ihnen was?«

      »Ja, kenn ich. Bin unterwegs.«

      Paul Wellmann sah seinen Kollegen an. »Die ›Eiserne‹? War sie das? Echt?«

      »Die vergisst man nie, auch wenn sie nun schon jahrelang in Rottweil arbeitet«, nickte Lindt, und über seiner Nasenwurzel gruben sich tiefe Zornesfurchen in die Stirn. »An früher will ich lieber nicht denken …« Erst ballte er die Fäuste, dann machte er mit seinen Händen eine würgende Bewegung.

      »… sonst könnte es sein, ich vergesse mich und packe sie an ihrem langen Hals …«

      »Chef!«, entsetzte sich Jan Sternberg. »So kenne ich dich gar nicht.«

      »Aber Oberstaatsanwältin Lea Frey, die kennst du ja wohl noch. Lang und dürr, ein Gesicht wie eine Krähe, jedes Wort ein Giftpfeil!« Lindt holte Luft, dann zählte er laut bis drei, atmete geräuschvoll aus und fügte hinzu: »Nein, ich rege mich nicht auf, es sieht nur so aus.«

      »Das war eine hervorragende Demonstration von Auto-Deeskalation«, grinste Sternberg. »Solltest du mal auf einem Seminar vormachen.«

      »Klappe!«, fuhr ihn der Kommissar an. »Franz ist tot, und das ist schlimm, sehr schlimm.«

      »Einzelheiten?«, wollte Paul Wellmann wissen. »Was hat sie noch Wichtiges gesagt?«

      »Erstens, ich soll alleine kommen. Zweitens, sie vermutet irgendwas Internes.«

      »Aha. Deswegen war sie so knapp. Hat mich schon gewundert. Sonst konnten ihre Schimpftiraden ja nicht lange genug dauern. Aber immerhin – sie will dich. Wahrscheinlich werdet ihr noch dicke Freunde.«

      »Dick?« Lindt spie das Wort regelrecht auf den Boden. »Erinnerst du dich, was die früher für ein Klappergestell war? Zieh ihr alte Kleider an und du hast die perfekte Vogelscheuche.«

      »Vielleicht hat sie sich ja geändert?«

      Lindt erhob sich. »Klang nicht so. Sie schießt immer noch scharf. Aber bitte, wir haben ja gerade keinen brandeiligen Fall hier in Karlsruhe. Also gibt es ein wenig Abwechslung mit der ›Eisernen Lea‹. Ich hole euch nach, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet.« Er füllte seine alte lederne Aktentasche mit zwei Handvoll Pfeifen, holte mehrere Tabaksdosen aus der Schreibtischschublade und ging zur Tür. »Haltet die Stellung. Ich melde mich. Ach ja, Paul, ruf doch bitte beim Direktor an, ob der auch wirklich Bescheid weiß.«

      Oskar Lindt startete seinen neuen »alten« Dienstwagen für die Fahrt nach Freudenstadt. Sein Faible für außergewöhnliche Fahrzeuge führte ihn häufig in die Halle, wo beschlagnahmte Autos aller Art verwahrt wurden. Nach einem Citroën XM, den er viele Jahre fuhr, war es ihm nun gelungen, einen Mercedes 280 E zu ergattern. Eine W-123er Limousine aus den 80er-Jahren, die aus der Sammlung eines Wirtschaftsbetrügers stammte und noch nicht versteigert worden war. Farbe ›Eibengrün‹, Automatik, Klimaanlage, Schiebedach, kurz gesagt, der Kommissar war glücklich mit seiner Errungenschaft und hatte sich in den vergangenen Monaten bereits richtig gut mit dem kräftigen Sechszylinder angefreundet.

      Heute allerdings lief es nicht wirklich flott. Erst ein Stau auf der A5 kurz vor Rastatt, dann im Murgtal ein Kieslaster nach dem anderen. Hatte er den ersten passiert, hing er kurz darauf hinter dem nächsten.

      Schließlich verspürte Lindt keine Lust mehr auf Überholmanöver und blieb mit entsprechendem Abstand zurück. Ohnehin war er in Gedanken so sehr bei seinem toten Kollegen, dass gezügeltes Tempo angesagt war.

      ›Der Leiter des Kriminalkommissariats Freudenstadt, Erster Kriminalhauptkommissar Franz-Otto Kühn, wurde Opfer eines Tötungsdelikts.‹ Das war der entscheidende Satz in der Eilmeldung gewesen, die Lindt auf Paul Wellmanns Monitor gelesen hatte. Dazu noch die mehr als kryptischen Andeutungen der Oberstaatsanwältin über mögliche polizeiinterne Verwicklungen – Lindt konnte sich auf all das keinen Reim machen.

      Mit Franz verbanden ihn mehrere spektakuläre Fälle, die sie im Nordschwarzwald gemeinsam, in engster Teamarbeit gelöst hatten. Das schweißt zusammen, ging ihm durch den Kopf.

      Es gab zwar keinen privaten Kontakt zwischen den beiden Ermittlern, aber sie hatten ungefähr dasselbe Alter, Mitte 50, auf der Zielgeraden zum Ruhestand, und so waren sie sich im Lauf ihrer Dienstzeit auch früher schon öfter begegnet. Die Chemie hat gestimmt, zog als weiterer Gedanke durch Lindts Hirn und hatte eine tiefe Traurigkeit im Schlepptau.

      »Tötungsdelikt?« Offizieller polizeilicher Sprachgebrauch, wenn noch nicht viel bekannt war. Was verbarg sich dahinter? Fahrlässige Tötung, Totschlag, Mord? Jedenfalls schien klar zu sein, dass ein natürlicher Tod

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