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      Die Schilderung über meine „verdorbene Jugend“ umfasst drei Teile: Die Lehrzeit, die Zeit im Reichsarbeitsdienst und meine kurze Militärzeit mit der sich anschließenden langen Kriegsgefangenschaft.

      Ich habe nur das aufgeschrieben, was ich noch wusste. Ich wollte außerdem nur schildern, wie es war. Nicht mehr – und ein Roman sollte es schon gar nicht sein. Die eine oder andere Sache hätte ich noch besser ausschmücken können, doch ich hatte Angst, dass ich es nicht mehr schaffe. Mit 75 Jahren muss man mit dem Lebensabschluss schon eher rechnen, als wenn man jünger ist. Vorher hatte ich aber keine Zeit und keine Lust zum schreiben. Außerdem waren mir die technischen Voraussetzungen nicht gegeben. Ich hatte jedoch einige schriftliche Aufzeichnungen und meine Berichtshefte aus der Lehrzeit, die mir bestimmte Zeiten dokumentierten. Zeiten, die ich nicht mehr dokumentarisch belegen kann, habe ich nach meiner Erinnerung niedergeschrieben.

       Horst Riemenschneider

       Bürgel auf einer alten Ansichtskarte, Familiennachlass

Teil 1 – Lehrjahre

      Es war an einem Februar Vormittag im Jahr 1940. Ich saß in den hinteren Bankreihen in der 8. Klasse der Volksschule im thüringischen Bürgel. Der Fußboden des Klassenraumes war erst vor wenigen Tagen vom Schuldiener Herrn Wilhelm geölt worden. Es roch noch stark nach diesem Öl. Besser gesagt, es „miefte“.

      Ich kann nicht mehr sagen, in welcher Stunde es war, als jemand an die Klassenzimmertür klopfte. Der Lehrer und Schulleiter Dr. Langheinrich ging zur Tür und öffnete diese. Meine Mutter drängelte sich herein, um für mich die sofortige Freistellung zu erlangen, weil ich nach Suhl zur Aufnahmeprüfung für eine Lehrstelle müsste. Da gab es erst einen Disput, in dem der Lehrer behauptete, dass ich ohnehin diese Prüfung nicht bestehen würde und doch lieber die von ihm vorgeschlagene Lehrstelle im Kupfer-Schiefer-Bergbau im Mansfeld annehmen solle. Es gab einen kleinen Streit darum. Schließlich durfte ich mit meiner Mutter mitgehen.

      Daheim konnte ich dann das Schreiben lesen, das von den „Wilhelm-Gustloff-Werken, Waffenwerk Suhl“ stammte. Darin stand, dass ich dort am folgenden Tag um 9.00 Uhr zur Aufnahmeprüfung vorsprechen soll. Warum ich nun heute schon von der Schule geholt wurde, erfuhr ich von der Mutter nicht, denn ich sollte ja erst am nächsten Morgen mit dem ersten Bus losfahren. Meine Großmutter erklärte mir, wie ich mich in Jena verhalten sollte, um schnell vom „Volkshaus“ zum Bahnhof Jena-West zu kommen. Ich müsse mich beeilen. Nun ging es noch darum, was ich anziehen soll. Schließlich war ich ausgestattet mit einer Jungenunterhose, einem gewöhnlichen Hemd, was ich nur unter einem Pullover tragen konnte, den Knickerbockerhosen von Onkel Hans, einer Joppe, die ich von Kaufmanns Jahn geschenkt bekam und ein Paar Schuhen von Onkel Fritz, sowie ein Paar Stümpfen, die aber meine eigenen waren. Eine Mütze hatte ich nicht. Besonders auf die Joppe war ich stolz, entsprach sie doch meiner Größe und hatte zum Aufhängen eine kleine silberne Kette. Die Knickerbockers waren mir deutlich zu groß, Sie fielen mir fast bis an die Ränder der hohen Schnürschuhe, die auch zu groß waren, aber das sah man nicht so.

      Am nächsten Morgen lag etwas Schnee. Als der Bus in Jena am „Volkshaus“ ankam, ging ich schnell los. Ich hastete die Straße zum Westbahnhof hoch. Das kam mir recht komisch vor und ich wollte eigentlich vorsichtshalber noch mal nach dem Weg fragen, aber, es gab niemand, den ich fragen konnte. Ich kam natürlich am Bahnhof an, erspähte den Fahrkartenschalter und löste eine Fahrkarte nach Suhl. In der Bahnhofshalle war kein Mensch zu sehen. Da entdeckte ich den Eisenbahner an der Sperre. Ich ging gemütlich dahin und fragte, ob der Zug nach Weimar-Erfurt schon da sei. „Da steht er“, war die Antwort. Nun wurde ich aufgeregt. Ich gab meine Karte zum knipsen und im gleichen Moment pfiff etwas. „Pfuff“ hörte ich und gewahrte, dass der Zug begann abzufahren. Ich riss dem Mann die Karte aus den Händen und stürmte auf den nun bereits fahrenden Zug zu. „Zurückbleiben!“, hörte ich, aber mich konnte in dem Moment kaum etwas aufhalten. Ich hangelte nach einem der Griffe, machte die nächste Tür auf und verschwand im Abteil. Eine etwa 40-jährige Frau drohte mir mit dem Finger und sagte: „Das ist verboten.“ Das wusste ich natürlich auch. Hatten wir sogar der Schule gelernt.

      In Jena hatte ich nichts mehr vom Schnee bemerkt. Erst als der Zug in höheres Gebiet in Richtung Groß-Schwabhausen kam, wurde die Umgegend wieder weiß und der Schnee höher und höher. Bis Oberweimar fuhr der Zug normal. Zu meinem Glück muss er wohl bereits in Jena-West verspätet abgefahren sein. Ab Oberweimar gab es viele Stehzeiten und ich ahnte, dass ich meinen Anschlusszug auf Bahnsteig fünf in Erfurt nicht mehr erwischen werde. Einige Fahrgäste maulten: „Ein bisschen Schnee und schon geht bei der Bahn nichts mehr. Von wegen, die Deutsche Reichsbahn ist schnell und zuverlässig.“ Diesen Spruch sollte ich in meinem Leben noch oft hören. Meine Voraussicht wurde bestätigt: Der Zug in Erfurt war längst abgefahren. Unsere Verspätung war zu groß. Zum Glück stand schon der nächste Zug nach Meiningen bereit. Aber dessen Abfahrt lag schon nach der Zeit, zu der ich in Suhl und im Betrieb sein sollte.

      Ich begab mich in ein Abteil, in dem schon ein älterer Herr und eine junge Frau saßen. So hoffte ich, jemand zu haben, den ich fragen konnte, wann es Zeit für mich zum Aussteigen sei. Vorsichtig tastete ich mich vor. Ich wollte ergründen, wo sie hinfahren. Beide wollten nur bis Arnstadt. So saßen wir eine Weile bibbernd vor Kälte in dem Zug, den man wohl nicht zu heizen gedachte, obwohl draußen auf den Bahnsteigen die Nebelschwaden von den Heizanschlüssen nur so vom Wind vorbei getrieben wurden.

      Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Warm wurde er nicht und Verspätung hatte er auch. In Neudietendorf stiegen weitere Fahrgäste zu. Bis Arnstadt hielt der Zug noch zweimal und dort wechselte das ganze Abteil, außer mir. Neue Fahrgäste stiegen zu und als ich wieder fragte, wie viel Stationen es bis Suhl seien, erhielt ich unterschiedliche Auskünfte, sodass ich unsicher wurde. Von Arnstadt dauerte es noch ein ganzes Stück, bevor man mit dem Personenzug dort ankam.

      Schließlich war Suhl erreicht. Meine Großmutter Luise hatte mir eingeschärft, vom Bahnhof aus nach links zu gehen. Wenn man in Suhl aus dem Bahnhofsgebäude kam, konnte man nur nach links gehen. Dass aber gemeint war, vorn an den Bahnschranken nach links zu gehen, habe ich dann erst nach einer halben Stunde mitbekommen, als ich zurück laufen musste. Ich ging also los und gelangte in die Innenstadt von Suhl und hinter dem Marktplatz wagte ich nun doch eine Mann anzusprechen. „Ha, da biste verkehrt, mei Jung,“ sagte der und meinte ich müsste genau in die andere Richtung gehen. Weiter sagte er etwas von einer Stunde Weg. Nun spurtete ich aber los, nachdem ich mich kurz bedankte.

      Als ich ein Stück hinter den Bahnschienen war, sah ich ein großes Betriebsgebäude, an dem ich so ein „G“ erkannte, wie es im Briefkopf zu sehen war. Ich ging heran und fragte, ob ich zur Abteilung Berufsausbildung hier käme. Doch ich erhielt die Auskunft, dass es bis dahin noch ziemlich eine Stunde Weg sei. Im Eilschritt und zeitweise im Laufschritt versuchte ich bald an mein Ziel zu gelangen. Auf meinem Weg sah ich schon einen großen Schornstein und vermutete zwar richtig, dass der zu dem Betrieb gehört, zu dem ich wollte, doch der Schornstein stand am oberen Ende des Betriebes und die Abteilung Berufsausbildung war am unteren Ende, was ich damals noch nicht wissen konnte. Endlich kam ich an einen großen Betriebseingang und hastete dahin. Wieder war ich verkehrt. Ich erhielt die Auskunft, dass nun noch weitere zehn Minuten Weg nötig seien. Ich hastete weiter und gelangte schließlich an einen weiteren großen und nun endlich den richtigen Betriebseingang.

      „Zur Abteilung Berufsausbildung“, bat ich, nach dem ich ein klägliches „Heil Hitler“ stotterte. Mir war ganz schön die Luft knapp geworden. Ich gab dabei meinen Brief durch das geöffnete Schalterfenster, hinter dem einige Männer in graublauen Uniformen saßen. Einer von ihnen kam heraus und forderte mich auf, mitzukommen. Er hatte kurze rötliche Haare, trug eine Stahlrahmenbrille, die wie Gold glänzte. Die Gläser der Brille waren etwas oval. Im Gesicht und am Hals hatte der Mann viele Sommersprossen. Der Wachmann ging mit mir durch den großen Torgang, der nach der damaligen Bauweise sehr modern war. Danach ging es zweimal nach rechts und durch eine Doppeltür. Dort kam ein Treppenaufgang. Es ging drei Etagen hoch

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