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nicht grad krank. Nur müde.« Hansine lehnte sich gegen die Wand. Dann sah Ingrid, dass Tränen über die grauen Wangen liefen. Sie schien jetzt erst aufzuwachen. Es bewegte sich etwas in ihr. Etwas, auf dem sie so lange herumgetrampelt hatte. Sie hatte sehr wohl Hansines kleinen, runden Bauch gesehen. Vierter, fünfter Monat etwa. Hansine hatte schon drei Kinder. Sie waren dicht hintereinander gekommen. In der Fischfabrik arbeitete sie erst seit einem Jahr. Seit sie das Jüngste nicht mehr stillte. Ingrid erinnerte sich noch, dass sie in der ersten Zeit in den Fünf-Minuten-Pausen Milch abgepumpt hatte. Hansine weinte.

      »Komm, ich fahr dich aufm Fahrrad nach Hause«, sagte Frieda, suchte Hansines Sachen zusammen und stopfte sie in das Netz. Die harten Blicke trafen Ingrid in den Nacken. Sie spürte, wie sie brannten. Wollte sich umdrehen und sagen, dass sie tatsächlich das Tempo ganz unnötig so hochgeschraubt hatte. Wollte die Hand hinstrecken. Aber sie brachte es nicht fertig. Sie hatte nie richtig zu ihnen gehört. Drängte sich auch nicht auf. Wollte ihnen beweisen, dass sie außerhalb stehen konnte und trotzdem zurechtkam. Dann ging ihr auf, dass man ihre kleine Gruppe leicht entzweien könnte. Das taten die, die am Ende an allem verdienten. Solche wie Dahl. Sie klappten die Brieftaschen zu, wenn die Schiffe mit so und so viel Tonnen Fischfilets vom Kai ablegten. Es war richtig, was Grete predigte: Man arbeitete für einen Dreckslohn, auch wenn man bis zum Umfallen schuftete.

      Das war der Grund, warum keine Freundschaft überlebte in dem engen, verräucherten Pausenraum mit dem nüchternen Resopaltisch und dem brandfleckigen Metallaschenbecher, auf dem »Bodø-Aktienbrauerei« stand. Das war der Grund, warum keine Zeit für ein freundliches Wort blieb, kein Raum für etwas anderes als die Hetzerei, um das Tempo zu halten! Nein, Ingrid, sagte ihr eine innere Stimme. Ist es denn heute Abend darum gegangen? Bist du ehrlich? Ist es nicht so, dass du dich in deine eigene prächtige Verbitterung einschließt und es die anderen büßen lässt? Hättest du das Tempo nicht so hochgeschraubt, dann wäre der Fisch vielleicht in den Kühlraum gestellt und auf zwei Schichten verteilt worden, und Hansine wäre nach Hause gegangen, hätte ihre Wäsche waschen und hinterher ihren Rücken ausruhen können.

      Es brachte so wenig, dass sie das Tempo forcierte. So wenig … Ingrid machte sich auf den Heimweg. Sie blickte nicht zurück – wie es mit den drei anderen ging. Sie wusste, dass sie redeten. Mit leisen, rauen Nachtstimmen voll müder Ohnmacht. Ein einsilbiges Gespräch. Mit Seitenhieben. Härte. Heftiger Abneigung. Gegen sie, Ingrid. Aber sie würde gutes Geld in der Lohntüte haben. Sie konnte in diesem Monat die Verantwortung für sich übernehmen. In jeder Hinsicht! Sie würde Rakel den Kleiderstoff bezahlen, den sie damals in Breiland von ihr bekommen hatte.

      Die Zahlen standen in Ottars Laden dicht wie ein Heringsschwarm unter ihrem Namen. Sie würde die Schulden bezahlen! Und sie würde noch genug übrig haben, um nach Bodø zu fahren und Henrik zu besuchen, wenn sie nicht in der Nacht, die sie für die Reise brauchen würde, irgendwo übernachtete.

      Ingrid verspürte einen gewaltigen Trotz. Und der machte es für sie möglich, hocherhobenen Hauptes über die Hügel zu gehen. Sie kam gar nicht auf die Idee, sich darüber zu wundern.

      Sie ging schnell. Aber es machte ihr nichts aus. Sie hatte sich von der Umwelt abgekapselt. Als sie zu Hause die Türklinke in die Hand nahm, war sie noch genauso blass wie in der Frosterei, als sie die Schürze zusammengefaltet hatte.

      Sie schaute bei Tora herein und wechselte ein paar Worte mit ihr. »Ich bin … müd, ich leg mich jetzt hin«, sagte sie schließlich. Vor allem, um nicht mehr sagen zu müssen.

      Ingrid ging ins Zimmer zu dem großen, leeren Bett. Sie wusste nicht, ob sie etwas vermisste. Sie war wohl auch zu müde. Dann zog sie die Gardinen vor und wusch sich mit kaltem Wasser. Um den schlimmsten Fischgeruch zu tilgen. Sie glaubte, dass ihr das gelang.

      Tora lag in der Kammer und wunderte sich, dass die Mutter kein heißes Wasser aus der Küche geholt hatte. Eine schreckliche Angst um die Mutter überfiel sie. Aber an diesem Abend war sie wohl nicht mehr stark genug für so viel Angst. Ihr Herz drohte wieder wie wild loszuhämmern. Sie drehte sich zur Wand um, versuchte die Astlöcher getrennt von der restlichen, glatten Fläche zu sehen. Aber das war ihr auch keine Hilfe.

      2

      Henrik wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Ihm wurden zwei Brandstiftungen an Simons Kai und den dazugehörigen Gebäuden zur Last gelegt. Die erste Brandstiftung wog angeblich schwerer. Bei den Vernehmungen hatte sich herausgestellt, dass Henrik gewusst hatte, dass zu der fraglichen Zeit Menschen in den Fischerhütten schliefen. Insgesamt hätten sieben Männer den Tod finden können. Als bekannt wurde, dass Rakel als Zeugin über ihren Schwager nur Gutes gesagt hatte, obwohl es doch gerade Simon gewesen war, der ihn angezeigt hatte, war das Erstaunen groß. Leise und augenzwinkernd wurde darüber getuschelt.

      Als mildernde Umstände war geltend gemacht worden, dass der Brandstifter seit langem an Depressionen litt und deshalb auch über längere Zeit hinweg stark getrunken hatte. Und dass er das Verbrechen unter Alkoholeinfluss begangen hatte.

      Die Leute auf der Insel murrten und wussten nichts von Henriks Depressionen. Entschuldigungen würden immer gefunden, wenn es galt, den Abschaum der Menschheit zu retten. Depressionen! Henrik! Ein Narr und ein Schmarotzer. Das war er. Ein Parasit. Die Männer standen in Ottars Laden und erinnerten sich daran, wie großspurig Henrik gewesen war, als davon gesprochen wurde, dass Simon nach dem Brand in der Webstube saß und jammerte. Die Männer winkten verächtlich ab. Und es war, als ob Ingrid in ihren Augen wuchs, je mehr sie sich über den Faulenzer ausließen, über diesen Henrik – und seine Meriten. Die Geschichten waren lang und verwickelt und wurden in ihrer ganzen breiten Vielfalt aus der Zeit ausgegraben, als Henrik und Ingrid noch nicht zusammen gewesen waren. Einige wussten auch zu berichten, dass es vor der Heirat eine Art Tausch gegeben habe. Ob Simon und Ingrid früher ein Paar gewesen waren – oder Rakel und Henrik, darüber war man sich nicht einig. Aber es hatte einen Tausch gegeben! Es konnte passieren, dass einer von ihnen ernstlich wütend auf einen anderen wurde, weil der etwas Falsches erzählte. Und die Übrigen fuhren dazwischen, und der Vormittag ging vor lauter Diskutieren schnell herum. Über eines waren sich alle einig: Henrik war und blieb ein Taugenichts. Und niemand verstand, wie Ingrid es mit so einem aushielt. Denn was Recht war, musste Recht bleiben. Auch wenn Ingrid ein Verhältnis mit einem Deutschen gehabt und sich ein Kind zugelegt hatte, so war sie jetzt doch eine anständige Frau. Rakel war gescheit. Aber zugunsten dieses Herumtreibers auszusagen? Depressionen! Ja, ja. Nur Simons Frau konnte mit so feinen Worten alle anderen in ihre Schranken weisen.

      Simon machte sich allerlei Gedanken und wusste nicht, dass er der große Held der Insel war. Er hatte den Eindruck, dass er den letzten Kredit gegen zu hohe Zinsen aufgenommen hatte. Außerdem machte er sich Sorgen um Rakel. Es ging ihr nicht gut. Er merkte es an vielen Kleinigkeiten. Sie lachte nicht mehr so gern und herzlich. War am liebsten allein. Ging kaum ins Dorf hinunter. Entschuldigte sich mit Müdigkeit oder zu viel Arbeit. Simon schob alles auf den Prozess gegen Henrik. Denn für Rakel war es ebenso sehr ein Prozess gegen Ingrid. Das tat weh. Simon wusste von dem, was sich zwischen den beiden Frauen abgespielt hatte, nicht mehr, als was er selbst gesehen und gehört hatte. Das war nicht viel. Und Tora hatte er nicht mehr gesehen, seit er den Mann und sie gerettet und mit dem zitternden Mädchen im Arm in der Tobiashütte gestanden hatte. Immer noch überkam ihn ein ganz sonderbar weiches Gefühl, wenn er daran dachte, wie fest sie sich an ihn geklammert hatte. Vielleicht lag es daran, dass er selbst keine Kinder hatte.

      Es wäre besser gewesen, wenn ihnen die Gerichtsverhandlung erspart geblieben wäre. Aber jetzt, wo das Ganze durchgestanden war, mussten sie alles nehmen, wie es eben kam. Rakel hatte also doch recht gehabt, als sie einmal sagte: »Genau so sind die Leute. Legen einfach ein Feuer.«

      So war jedenfalls Henrik. Die meisten waren nicht so. Trotzdem war es schlimm genug. Simon hätte gerne etwas für Ingrid und das Mädchen getan. Aber immer stand er vor verschlossener Tür, wenn er mit Ingrid reden wollte.

      Er konnte deutlich sehen, dass sie zu Hause war. Und da half es ihm nichts, dass er keinerlei Schuld fühlte, weil er die Anzeige nicht Henrik zuliebe zurückgenommen hatte. Er konnte und wollte einen solchen Menschen nicht frei herumlaufen lassen. Im tiefsten Herzen verachtete Simon solche Taten und distanzierte sich von ihnen. Er konnte diese Leute einfach nicht verstehen.

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