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zeigt, wie sehr sich die Koordinaten für die Einordnung dieses Problems verschoben haben. Sie zeigt aber auch, wie unsicher und schwankend die abendländische Tradition sich seit den Anfängen des Christentums in dieser Sache verhalten hat: Aus seiner Umwelt sickerte die Unterscheidung von Fleisch und Geist in die Lehrbildung des Christentums ein, verbunden mit der Überordnung des Geistes über das Fleisch. Das „Fleisch“, die Leiblichkeit des Menschen, wird zum Zeichen seiner Sündhaftigkeit und Vergänglichkeit. Es muss vom „Geist“, Ausdruck der Gottesbeziehung und der Reinheit, kontrolliert werden. Diese Abwertung des Leibes, die gerade mit Blick auf die Sexualität zu einer klaren Leibfeindlichkeit gesteigert werden konnte, wurde freilich überlagert und konterkariert durch die ebenfalls aus der Umwelt übernommene Ausrichtung der ethischen Normen am Naturrecht: Nun sind es unter dem Leitprinzip des „agere sequitur esse“ gerade die natürlichen Merkmale, die den Maßstab des Handelns vorgeben. Prominentestes Beispiel hierfür ist das Geschlechterverhältnis, bei dem die Unterordnung der Frau unter den Mann aus vermeintlich natürlichen Eigenschaften gefolgert wurde.

      Wie schwierig, wie ambivalent auch die Justierung zwischen der Ausrichtung an den naturalen Grundlagen und der Ablehnung eines solchen Vorgehens sein kann, wie sehr also Charles Taylor mit seiner Einschätzung im Recht sein dürfte, wird deutlich, wenn man aktuelle bioethische Debatten unter dieser Fragestellung betrachtet. Dann wird nämlich deutlich, dass nach wie vor beide Elemente in der Diskussion zu finden sind und zugleich in ihrer unterschiedlichen Zuordnung die jeweilige Positionsbestimmung steuern: So ist der Emanzipationsdiskurs der 1960er-Jahre, der zu einer umfassenden Revision der bis dahin vorherrschenden Normen im Bereich des Zusammenlebens der Geschlechter führt, maßgeblich davon getragen, der Zurückdrängung der Körperlichkeit und damit auch der Triebhaftigkeit in der christlichen Tradition entgegenzutreten. Im Hintergrund steht dabei eine Umstellung im Verständnis des Natürlichen: Dieses wird nun nicht mehr als der Gegensatz zum Sittlichen verstanden, sondern umgekehrt muss sich das Sittliche daran messen lassen, ob es mit dem Erleben der eigenen Leiblichkeit kompatibel ist. Besonders deutlich wird dies in der Neubewertung der Homosexualität, bei der die körperliche Verfasstheit, nicht die kulturelle Norm zur Grundlage wird. Flankiert wird diese Entwicklung durch die nun aufkommende ökologische Bewegung, die sich parallel anschickt, die naturalen Grundlagen zum Referenzpunkt sittlicher Urteilsbildung zu erheben. Schon hier sieht man allerdings die Doppelstämmigkeit des Natur-Arguments, das bereits die abendländische Naturrechtstradition prägte: Denn das Naturrecht konnte nicht nur, wie zumeist im kirchlich-theologischen Kontext, konservativ ausgelegt werden, sondern auch emanzipativ: In dieser Perspektive tritt es über die Vorstellung, alle Menschen seien von Natur aus gleich und darum auch gleichberechtigt zu behandeln, den traditionellen, hierarchischen gesellschaftlichen Ordnungsmustern entgegen. Vergleicht man nun den Rekurs auf die naturalen Grundlagen im Zusammenhang der Revision der Geschlechterverhältnisse und in dem Ökologiediskurs, dann lässt sich dieser unterschiedliche Gebrauch erneut identifizieren. Die Diffusität der Problemlage wird allerdings erst vollständig deutlich, wenn man ein weiteres Element hinzunimmt, nämlich das ebenfalls in dieser Zeit rapide steigende Bewusstsein für die kulturelle Prägung und damit auch die Formbarkeit sittlicher Urteile. Die Differenzierung von sex und gender ist für diesen Prozess besonders aufschlussreich: Geschlecht erscheint nun nicht mehr als eine biologische Kategorie, sondern in der gegebenen Allgemeinheit als eine kulturelle Konstruktion.

      Führt man sich diese Entwicklung vor Augen, dann zeichnet sich ab, dass die prägenden Veränderungen für die Orientierungsfindung im Bereich der Bioethik weder als Biologisierung bzw. Naturalisierung, noch als Kulturalisierung adäquat beschrieben werden können. Vielmehr werden beide in Dienst genommen für die entscheidende Modifikation der Gegenwart: Nun wird die Einzigartigkeit konkreter Individuen in den Mittelpunkt gerückt. Die maßgebliche Verschiebung in der Bedeutung, die dem Körper und damit den naturalen Grundlagen der Lebensführung zugemessen wird, dürfte dementsprechend in der strikten Individualität der Körperbeziehung liegen: Anders als im Naturrecht, anders auch als in der Verwendung des Natur-Arguments in der Ökologiedebatte ist es die Einzigartigkeit des eigenen Körpers, die nun in den Mittelpunkt gerückt wird. Die Dekonstruktion der kulturellen Prägungen dient demselben Ziel: Auch hier gilt es, die Einzigartigkeit des Individuums als Referenzpunkt festzuhalten.

      Die Folge dieser Entwicklung ist eine Konzentration ethischer und politischer Fragen auf die Ermöglichung von Selbstbestimmung. Aber der Rekurs auf die Einzigartigkeit wirft die Frage auf, wie hier Vorstellungen vom gemeinsamen guten Leben entwickelt werden sollen. Dies gilt umso mehr, als mit dem Rückgriff auf den eigenen Körper als Referenzpunkt für die Legitimation sittlicher Normen natürlich auch die Abhängigkeit von den verschiedenen Lebensstadien unabdingbar gegeben ist. Gerade hinsichtlich einer Ethik des Alterns sind solche Überlegungen von Interesse. Nimmt man die im eigenen Körpererleben begründete Individualität ernst, so kann es keine Ethik geben, die sich an einem fixen Menschenbild orientiert, sondern nur eine Ausrichtung an den individuellen Bedürfnissen. Das Bundesverfassungsgericht ist mit seinem Urteil zum assistierten Suizid dieser Linie gefolgt.

      So sympathisch eine solche Sicht ist, weil sie der aus der Erfahrung totalitärer Herrschaft erwachsenen Hochschätzung des Einzelnen entspricht, so sehr zeigen sich doch bei näherer Betrachtung auch die Schwierigkeiten: Gerade im Bereich der Bioethik bleibt ein normatives Konzept des Normalen, bleibt also ein überindividueller Bezugspunkt der Körperlichkeit unverzichtbar, und zwar dann, wenn es um die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit geht. Die Kritik an dem eben erwähnten Urteil des Bundesverfassungsgerichts, die ein Recht auf assistierten Suizid auch schon bei Liebeskummer eines Heranwachsenden annehmen wollte, mag überzogen sein, verweist aber dennoch genau auf dieses Problem. Denn auch wenn mit Recht von verschiedenen Autoren darauf hingewiesen wurde, dass ein rein naturalistisches Verständnis von Krankheit und Gesundheit unzureichend ist und stattdessen beide als eine Kombination biologischer, psychischer und sozialer Faktoren verstanden werden müssten, dass vor allem die Erste-Person-Perspektive bei der Bestimmung von Krankheit und Gesundheit nicht ausgeblendet werden dürfe7, bedarf es dennoch einer Kriteriologie, die es erlaubt, über die Zulässigkeit und das Geboten-Sein medizinischer Eingriffe zu entscheiden. Dabei ist das Feld derartiger medizinischer Maßnahmen weit zu fassen, es gilt sowohl für die Anti-Aging-Medizin und für die Fragen des Enhancements, als auch für die Problembereiche am Lebensanfang und am Lebensende. Und da die Zuschreibung der Krankenrolle immer auch eine gesellschaftliche Dimension beinhaltet – Kranke haben Anspruch auf Heilbehandlung (§ 27 I SGB V) und sind zugleich von bestimmten gesellschaftlichen Pflichten entbunden –, lässt sich der Kreis der Maßnahmen letztlich auf alle Formen medizinisch-professionellen Handelns am Patienten ausweiten. Nicht ohne Grund kennt darum das deutsche Recht das Zwei-Säulen-Prinzip für die Zulässigkeit medizinischer Interventionen: Solche Maßnahmen dürfen nur ausgeführt werden, wenn (1) eine vom Arzt festgestellte medizinische Indikation vorliegt und (2) der bzw. die Betroffene dieser Maßnahme seine informierte Zustimmung erteilt hat (informed consent). Wollte man auf eine solche an einer überindividuellen, biostatistischen Normen ausgerichtete Grenzziehung verzichten, so könnte der Wunsch nach medizinischer Therapie nicht begrenzt werden, weder am Anfang noch am Ende des Lebens. Gleichzeitig aber wäre es schwer, gesellschaftliche Unterstützung für ein nur subjektiv empfundenes Krankheitsbild einzufordern. Medizinische Unterstützung stünde dann in der Gefahr, von einem Anspruchsrecht zur Freiwilligkeit degradiert zu werden. Die hier aufgeworfenen Fragen werden derzeit in der Debatte um die Fortpflanzungsmedizin konkret: Unter welchen Umständen haben ungewollt Kinderlose Anspruch auf medizinische Unterstützung? Nur dann, wenn die körperlichen Voraussetzungen eines Paares grundsätzlich gegeben sind und lediglich aktuale Beeinträchtigungen Empfängnis und Geburt eines Kindes unmöglich machen? Oder auch dann, wo im Falle gleichgeschlechtlicher Partnerschaften diese Voraussetzungen eben nicht gegeben, aber durch Fortpflanzungsmedizin substituiert werden können? Und genügen im letztgenannten Fall das individuelle Recht auf Fortpflanzung und das subjektiv empfundene Leiden, oder müssen solche Leistungen von der sozialen Akzeptanz entsprechender Maßnahmen sowie der Lebensformen, die damit verbunden sind, getragen sein?

      In dieser Debatte ist häufig darauf hingewiesen worden, dass – entgegen der Auffassungen, die mit der Figur des Naturrechts oder der Schöpfungsordnung argumentieren – die vorausgesetzten Normen als kulturelle Konstruktionen und damit zugleich auch als wandelbare Vorgaben betrachtet werden müssen. Insbesondere Judith

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