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Das sei im Folgenden programmatisch für diesen Band in einem ersten Teil dieser Einführung skizziert. Ein zweiter Teil orientiert über die Beiträge des Bandes.

       2. Programmatische Hinführung

       2.1 Die zwiespältige Reputation des Normalen

      Vielleicht nicht immer schon, aber seit Langem wird das Prädikat normal in Alltagsdiskursen mit Empörung eingesetzt. Sex mit zwölf. Botox mit vierzehn. Flächendeckende Körpertattoos. Eine Extradosis Ritalin vor Mathematik und Französisch. „Das ist doch nicht normal!“, heißt es dann. Allerdings sind die Normalitätswächter unserer Tage in Gestalt von (Groß-)Eltern oder Lehrern verunsicherte Kantonisten, entstammten sie doch einer Generation, die mit dem Kürzel 68er charakterisiert wird – und die steht bekanntlich für einen Relaunch des alten Normalitätsverständnisses, das mit einer olfaktorischen Vokabel belegt wurde: Muff. 68er sind Lüftungstheoretiker, die freilich selbst, zumindest in der Gründungsphase, einen Hang zur Normativität aufwiesen, wie der totzitierte Satz belegt: Wer zwei Mal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment. Nach 68 schien der Begriff der Normalität in einem Allzeittief zu verharren, aber die sprunghafte Entwicklung der Biowissenschaften, die Frage nach Enhancement, die nicht gegenstandslose Wissenschaftsfantasie einer Emeritierung des Todes12, aber auch Martin Walsers Paulskirche-Rede von 1998 und politische Bewegungen wie der Populismus setzten das Thema erneut auf die Agenda. Die aktuelle Konjunktur wurde oben aufgegriffen.

       2.2 Zur Eigenart von Normalitätsproduktion. Jürgen Links Diskurstheorie des Normalismus

      Ausgerüstet mit foucaultschem Besteck und systemtheoretischen, kybernetischen, flexibilistischen psychologischen Theoriemodulen hat der Literaturwissenschaftler Jürgen Link den Normalitätsdiskurs Ende der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts aus dem toten Winkel der theoretischen Reflexion geholt. Seine Grundfrage lautete: „Ist Normalität eine moderne Emergenz oder eine anthropologische Konstante?“13 Seine Antwort fiel eindeutig aus: „(D)ie vorliegende Untersuchung“ fasst „das Normale als strikt soziokulturelle und historische, erst in der Moderne seit dem 18. Jahrhundert emergente Theorie“14. Normalität hat ein „historisches Apriori“15, taucht in westlichen Gesellschaften ab dem 18. Jahrhundert auf, eng verbunden „mit moderner Massenproduktion und moderner Erhebung von Massendaten seit dem 18. und frühen 19. Jahrhundert“16.

      Link unterscheidet zwei nahezu gegensätzliche Strategien der Normalisierung und kontrastiert eine „protonormalistische“ gegen eine „flexibel-normalistische“ Strategie. Die protonormalistische Strategie, von der er sich absetzen will, arbeitet mit stabilen Grenzen, stigmatisiert und exkludiert „Auffällige“, arbeitet mit Dressur und besitzt eine „Tendenz zur >Anlehnung< der Normalität an materielle Sonderterritorien (z.B. Gefängnis, Irrenanstalt)“17. Dem entspricht aufseiten der Subjekt-Technik die Haltung, sich der „Außenlenkung“ zu unterstellen mit der Folgelast einer „Fassaden-Normalität“. Als Leitdiskurse nennt Link „Medizin/Psychiatrie, Biologie, Industrialismus“ und entziffert als Geschichtskonzepte die „Teleologie, Historizismus mit definitiver Zielphase“18.

      Demgegenüber reißt die „flexibel-normalistische Strategie“, mit der Link sympathisiert, die Abgrenzungen ein. Link ist ein Enthusiast des Fluidalen. Entsprechend verabschiedet Link die Idee der Außenlenkung und nennt als „Subjekt-Techniken“: „Selbst-Normalisierung, Selbst-Adjustierung, selbständiges Risiko- und Kompensationskalkül. Chance: >Authentizität< durch Coming out und Outing).“ Konsequent werden teleologische Geschichtskonzepte emeritiert und für eine „>offene< Posthistoire, Postmoderne“ plädiert.19 Link feiert Kunst als Motor der Flexibilisierung und destilliert seine Analysen in Sätze wie diesen: „Im Normalismus läßt sich die Hauptfunktion von Kunst und Literatur als Bereitstellung von Applikations-Vorlagen für Denormalisierungen (z.B. „Marginalisierungen“) auffassen, mit dem Grundtyp der (nicht) normalen Fahrt, die ein Subjekt irreversibel aus der Normalität abweichen lässt. Dieser Narrationstyp dient – in Kofunktion mit statistischen Daten – der Markierung von Normalitätsgrenzen, die wiederum >innere Bildschirme< zur lebensweltlichen Orientierung normalistischer Subjekte generieren.“20

      Im Zuge seiner Analysen entschränkt Link Normalität und Normativität, nicht zuletzt, um der Inklusion von Minderheiten zu dienen. Das wird hochproblematisch, wenn Link ethische Themen gleichsam nebenbei anspielt. Leichthändig plädiert Link für einen „transnormativen, transjuridischen und transethischen Typ von >Gewissen<. […] (W)ährend das normative Gewissen angesichts der Prä-Implantations-Diagnostik die Grundsatzfrage nach der Zuverlässigkeit von Selektion in jedem Einzelfall aufwirft, verweist das normalistische Gewissen auf die bereits längst hohen statistischen Werte der In-vitro-Fertilisierung, d.h. deren Normalität, und zieht daraus die Folgerung, daß die menschliche Generativität historisch unwiderruflich artifiziell und also normaliter gentechnisch geworden ist.“ Zwar gibt Link zu, es gebe durchaus „Koexistenzen zweier Gewissensinstanzen“, auch deshalb, weil „Normativität ja niemals in toto durch Normalität ersetzt werden kann“. Aber: „Was die Kollisionen betrifft, so zwingt das historische Material der vorliegenden Studie zu der Einsicht, daß bei >störender< Abweichung der Normativität von der Normalität die erste eher der zweiten angeglichen werden kann, als umgekehrt.“21 Solche Aufstellungen sind gefährlich.

       2.3 Wider einen Abschied von der Normativität

      Mit seiner Rede von dispositiven und diskursiven Praktiken beschreibt Link anonyme Strukturen, die ein Subjekt allererst konstituieren sollen und die als solche keine direkte Rückadressierung zulassen. Wer aber sagt denn, dass diese anonymen Strukturen, die sich einer Sprach- und/oder Gesellschaftsform verdanken, gute Strukturen sind?22 Unter der Hand plädiert Link für ein höchst normatives Gesellschaftsmodell, das fluidal und inklusiv ist, und geht dabei unausgesprochen von normativen Menschenrechten und einem inklusiven Würdeverständnis aus. Was aber, wenn anonyme Strukturen so lange ein am Rassismus orientiertes Modell adressieren, bis irgendwann eine kritische Masse erreicht wird, die das angepriesene Modell als normal empfindet?

      Die späte Kehre seines Patrons hat er jedenfalls verschwiegen. Foucault hat vielleicht nicht zufällig in seiner letzten Vorlesung am Collège de France die Parrhesia für sich entdeckt und für eine Ethik der ungeschützten Rede plädiert, die auf Schmeichelei verzichtet, keine falschen Kompromisse eingeht und auch Statusfragen nicht ins Kalkül zieht.23 Parrhesia ist in der Antike eine Tugend, später auch – zumindest zeitweise – eine urchristliche Tugend. Die Rede von Tugend impliziert (nahezu zwingend) die Rede von Charakter. Und Wahrheit wird hier gegen das, was als normal gelten soll, ins Feld geführt.

      Inklusion setzt ein liberales Gemeinschaftsverständnis voraus, das hoch sensibel auch auf die Rechte von sogenannten Minderheiten reagiert. Ein solches Modell fordert normative Tugenden, auf die man sich reziprok verständigen kann: Was können wir gegenseitig voneinander fordern? Der Berliner Philosoph Ernst Tugendhat hat im Anschluss an die schottischen Aufklärer, namentlich an Adam Smith, zwei Basisnormen oder Tugenden ausgezeichnet, die wir gegenseitig voneinander fordern können: Selbstbeherrschung und Sensibilität. Es sind zwei Grundnormen oder Tugenden einer liberalen Bürgergemeinschaft, historisch geronnen in der englischen Gesellschaft, die aber flexibel genug sind, auch für sich liberal weiterentwickelnde inklusive Gesellschaftsformen gültig zu sein. Selbstbeherrschung ist ein Aggressionsstopper schlechthin, die in Kombination mit Sensibilität befriedend wirkt. Tugendhat hat nicht nur die oft sehr unterschiedlich ausgeprägten Interessen von Mitgliedern einer Gesellschaft im Blick, vielmehr zielt er auch auf eine „Harmonie der Affekte“24. Bei abweichendem Verhalten, das ist die Pointe von Tugendhat, muss derjenige, der gegen die Normen verstößt, mit Scham reagieren und entsprechend die Schamzeugen mit Empörung. Die anderen, die Schamzeugen, sind die Instanz, die mein Handeln bewerten und die Neujustierung der Basisnormen einfordern. Bei Übertritten müssen Scham und Empörung eintreten. Scham ist also ein notwendig geteiltes Gefühl. So gesehen ist Scham in der Lage, eine autonome Ethik zu begründen, sofern sie an Basisnormen oder Tugenden, die

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