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haben Recht. Also, das letzte Lebenszeichen meiner Tochter war dieser Anruf bei mir am 29. März. Da sagte sie, sie benötige ein paar Tage, um Abstand zu gewinnen, und sie würde sich bald wieder melden. Außerdem bat sie inständig darum, dass wir ihren Entschluss respektieren und nicht nach ihr suchen sollten. Sie käme schon alleine zurecht.”

      „Wen meinen Sie mit ‚wir‘?”

      „Mich, ihren Mann und dessen Familie. Sie wohnt ja in Bernheim auf dem Weingut.”

      „Und wie steht ihr Mann zu der Sache?”

      „Er meint, wir sollen abwarten. Renate würde sich bestimmt bald wieder ‚einkriegen‘. Außerdem will man nicht, dass etwas an die Öffentlichkeit kommt.”

      „Man?” fragte ich.

      „Ich denke, mit man ist hauptsächlich Johann Preuß gemeint.” Heribert fragte nach den Familienbeziehungen

      „Da ist Benjamin, Renates Mann, der Sohn von Günther und Gerlinde Dohne. Gerlinde ist die Tochter von Johann und TheaPreuß. Thea ist vor 28 Jahren mit meinem Mann bei einem Betriebsunfall auf dem Gut umgekommen.” Sie seufzte kurz. „Ist lange her, aber ich vermisse ihn immer noch. Gerade jetzt, in dieser Situation.”

      „Johann Preuß”, erklärte ich Heribert, „ist der Patriarch. Er hat das Weingut aufgebaut. Aber viel mehr weiß selbst ich als Dorfbewohner nicht. Die Preußens leben sehr zurückgezogen.”

      „Die gesamte Familie Dohne verhält sich so”, seufzte Gertrud erneut. „Oder hat Renate dich auch nur ein einziges Mal in deiner Kanzlei besucht, obwohl sie über zwei Jahre bei dir gearbeitet hat?”

      „Nicht, dass ich wüsste.”

      „Wer wohnt noch auf dem Weingut?”, fragte Heribert.

      Gertrud überlegte kurz und zählte dann auf: „Da ist noch Benjamins älterer Bruder Andreas, verheiratet mit Marlies, einer geborenen Strack. Sie entstammt einer Weinbaufamilie in Eckelsheim. Und dann natürlich Johann Preuß. Obwohl er nach seinem Unfall vor 20 Jahren seiner Tochter Gerlinde den Betrieb übertragen hat, bestimmt er weiterhin das Geschehen auf dem Weingut. Der Mann ist noch topfit und regiert mit seinen 87 Jahren aus dem Rollstuhl heraus die gesamte Familie. Und die reagiert brav und unkritisch, wie auf Knopfdruck.”

      „Klingt so, als ob du mit der Wahl deiner Tochter nicht so ganz einverstanden bist.”

      „Ach weißt du, Darius, wenn man ein Mandat seit so vielen Jahren betreut, offenbart sich einem einiges. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.”

      Heribert hatte sich Notizen gemacht und stellte noch eine Lücke fest.

      „Was ist denn mit der zweiten Tochter, dieser Marga, bei der Renate übernachtet hat?”

      „Die hat ein eigenes Haus in Bernheim. Mit ihrer Familie hat sie kaum mehr Kontakt. Eigentlich überhaupt nicht.”

      „Weshalb nicht?”

      „Keine Ahnung, Herr Koman. Dieses Thema ist ebenso tabu, wie die Ursache für Johanns Behinderung. Es wird gemunkelt, dass Marga als Teenager schwanger war und damit nach Ansicht ihres Vaters Schande über die Familie gebracht hat.”

      „Leben wir noch im Mittelalter? Ist die Erde etwa doch eine

      Scheibe?” Heribert schüttelte zweifelnd den Kopf.

      „Er ist halt ein typischer Patriarch, im 1. Weltkrieg geboren und auf dem Dorf aufgewachsen. Was will man da anderes erwarten? Und alles, was sich ungünstig auf den Namen Preuß und inzwischen auch Dohne auswirken könnte, darf nicht an die Öffentlichkeit gelangen – nur kein Aufsehen.”

      „Das wird dann auch wohl der Grund dafür sein, dass keine Vermisstenanzeige bei uns eingegangen ist”, stellte Heribert fest.

      „Johann Preuß hat Dr. Roland Katzenborn konsultiert, den Familienanwalt in Bad Kreuznach. Der bestätigte ihm, was er wohl wissen wollte: Aufgrund der bekannten und belegbaren Tatsachen läge ein freiwilliger und selbstbestimmter Entschluss, kein Verbrechen und offenbar auch keine Gefahr für Renate vor. Außerdem sei sie volljährig. Also müsse man die Polizei nicht informieren und könne nach eigenem Gutdünken verfahren. Er empfahl, eine Detektei einzuschalten, mit der er bereits gute Erfahrungen gemacht hätte. Wie sehen Sie das, Herr Koman?”

      „Zu allererst bin ich absolut skeptisch bei Vorschlägen, die von einem Herrn Dr. Roland Katzenborn kommen. Gegen ihn liefen bereits mehrere Ermittlungsverfahren.”

      „Was hat der denn gedreht? Ich kenne ihn nämlich auch. Nicht direkt, einige meiner Mandanten beauftragen ihn gelegentlich”, fragte ich dazwischen.

      „Darüber darf ich dir keine Auskunft geben.”

      „Aber dass gegen ihn Ermittlungsverfahren liefen, darfst du erzählen?”

      „Herrje, Darius!” Heribert verdrehte entnervt die Augen, „jedenfalls sind alle Verfahren im Sande verlaufen. Er scheint einflussreiche Freunde zu haben.”

      Er wandte sich wieder Gertrud zu: „Ich erkläre Ihnen zuerst die Rechtslage, dann unterhalten wir uns darüber, was wir trotzdem unternehmen können.”

      Gertrud nickte und ich war gespannt, mit welcher Überraschung unser deutsches Recht in diesem Fall, den ich natürlich nicht objektiv betrachten konnte, aufzuwarten hatte.

      „Eine der Polizeidienstvorschriften, die wir zu beachten haben, es ist die 389, regelt unseren Einsatz bei Vermissten, unbekannten Toten und unbekannten hilflosen Personen. Als vermisst gelten danach Personen, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben, ihr Aufenthalt unbekannt ist und – das ist entscheidend – wenn eine Gefahr für Leben und Gesundheit angenommen werden kann. Bei Kindern und Jugendlichen wird grundsätzlich von dieser Gefahr ausgegangen. Deshalb nehmen wir bei einem vermissten Kind oder Jugendlichen auch gleich die Ermittlungen auf.

      Bei vermissten Personen, die über 18 Jahre alt sind, beginnen wir nur bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen mit den Ermittlungen. Dazu müssen nämlich konkrete Anhaltspunkte vorliegen. Zum Beispiel Hinweise darauf, dass ein Unglück oder eine Straftat vorliegen könnte. Stellen Sie sich vor, Frau Faber, Renate hätte eine Bergtour gemacht und würde nach Ende des Urlaubs nicht nach Hause kommen. Wenn sie dann von ihrem Mann oder von Ihnen als vermisst gemeldet würde, würden wir sofort die Ermittlungen aufnehmen. Das Gleiche gilt, wenn jemand verschwindet, der geistig verwirrt oder suizidgefährdet ist.”

      „Und wenn wir einfach eine Gefahr unterstellen, etwas konstruieren?”, dachte ich laut nach.

      „Vergiss es! Wenn wir Renate tatsächlich auffinden würden und es sich weiterhin herausstellte, dass sie ganz bewusst von zuhause weggegangen ist, dann dürften wir den Angehörigen nur dann ihren Aufenthaltsort preisgeben, wenn sie damit einverstanden wäre.”

      „Aber was tun wir nun? Darius? Herr Koman? Ich mache mir halt Sorgen.”

      „Frau Faber hat Recht. Dieses Verhalten ist nicht typisch für Renate”, stimmte ich ihr zu.

      „Natürlich könnte ihr etwas zugestoßen sein. Aber sie ist ein freier Mensch. Wissen Sie, Frau Faber, jährlich werden etwa 100 000 Menschen in der Bundesrepublik als vermisst Gemeldete registriert, etwa 45 000 Kinder und Jugendliche und 55 000 Erwachsene. Die meisten sind kurze Zeit später wieder zuhause.”

      „Und innerhalb wie kurzer Zeit?”, fragte Gertrud unsicher.

      „90 Prozent dieser Fälle regeln sich innerhalb eines Monats.”

      „Und was ist mit den restlichen zehn Prozent?”

      „Solange noch Hoffnung besteht, werden auch die nicht so einfach zu den Akten gelegt. Ein Kollege aus Wien erzählte mir, dass seit 1998 ganz oben auf seinem Schreibtisch der Ermittlungsvorgang eines entführten Mädchens liegt, den er immer wieder aufnimmt. Der Fall dieser Natascha Kampusch, so heißt sie, glaube ich, geistert daher auch immer wieder durch die österreichische Presse. Er wird erst dann abgeschlossen sein, wenn Gewissheit über ihr Schicksal besteht.”

      „Also,

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