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achten müssen. Maitre Paul, wie wir ihn anerkennend nannten, stand wie immer, wenn es in der Küche nichts zu tun gab, auf der anderen Seite des Ausschanks. Angetan mit seiner burgunderroten Schürze, mit dem eingestickten goldfarben und ineinander verschlungenen Namenskürzel PH, wartete er in diskretem Abstand im Hintergrund auf einen Wink, unsere Gläser mit Bernheimer Spätburgunder zu füllen. Jeder von uns hatte bereits fünf Striche auf seinem Deckel.

      Nebeneinander stehend, unsere Rücken dem Gastraum zugewandt, mussten wir ein imposantes Bild abgeben. Von hinten sahen wir uns, soweit es unsere Statur betraf, zum Verwechseln ähnlich. Heinz war mit 1 Meter 85 nur knapp größer als ich. Von vorne betrachtet erkannte man natürlich den Unterschied von zehn Jahren, die ich Heinz voraus hatte. Er war in seinem Farmerlook – kariertes Hemd und speckige Glattlederhose – ich immer noch im anthrazitfarbenen Kanzleianzug, was darauf hinwies, dass ich Sonjas Abwesenheit zu Überstunden missbraucht hatte. Den Schlips hatte ich allerdings abgelegt.

      Einen Fuß auf der Trittstange abgestellt, leicht nach vorn über den Tresentisch gebeugt hielten wir unsere Gläser in der Rechten und starrten in das dunkle, satte Rubinrot. Ich hatte mich ausgequatscht, Heinz hatte zugehört und nun konnten wir … schweigen. Eine Szene wie in einer alten Westernschnulze. Ich schmunzelte vergnügt vor mich hin, mir ging es besser, Heinz hatte mich verstanden. Oder etwa doch nicht?

      „Wo ist dein Problem, Darius?” Er stellte sein halbvolles Glas auf dem Tresen ab. „Gut, Beatrice hat dich vor acht Jahren mit euren beiden Söhnen verlassen. Aber, die sind ohnehin schon längst aus dem Haus und mit Beatrice besteht eine Freundschaft, die anscheinend besser funktioniert als eure Ehe.”

      „Schon, aber …”

      „Und seit fast drei Jahren bist du mit Sonja zusammen. Ihr passt zusammen, ergänzt euch und seid offenbar glücklich.”

      „Ja, das stimmt ja alles, aber …”

      „Was denn aber. Dir könnte es doch nicht besser gehen. Wie kann man nur so wehleidig sein, nur weil mal nicht alles so geht, wie man es sich vorstellt. Du könntest wirklich etwas entspannter sein.”

      „Du musst gerade reden. Wie war das denn letzten Monat, als ihr Oskar geschlachtet habt, weil trotz mehrmaliger Deckungsversuche keine eurer Kühe trächtig wurde.” Heinz winkte ab, aber ich wollte einfach zeigen, dass auch er seine Grenzen hatte. „Und kurz danach habt ihr festgestellt, dass er doch seiner Bullenpflicht erfolgreich nachgekommen war. Der wollte nur nicht, dass ihr dabei zuseht. Nur war da der verhätschelte Zuchtbulle schon im Topf.”

      „Klar hat mich das geärgert.”

      „Geärgert? Tagelang gab es kein anderes Thema. Ganz Bernheim musste an deinem Kummer teilnehmen. Und als der Metzger dann wegen eines Missverständnisses fast das ganze Fleisch zur Wurst verarbeitet hat, sogar die Filetstücke, da bist du gänzlich ausgeflippt. Dabei ist es doch nur dein Hobby und soll der Entspannung dienen.”

      Beide hatten wir unsere Gläser geleert und ich erweckte Paul aus seiner Erstarrung. „Noch mal dasselbe” forderte ich und tippte mit dem Zeigefinger auf meinen Deckel. Ich hatte Heinz attackiert, dafür gab ich einen aus.

      Als wir mit den Gläsern anstießen, kam ihm die Erleuchtung: „Weißt du, was dir fehlt? Du müsstest wieder einmal über eine Leiche stolpern. Kriminalabstinenz führt bei dir zu Entzugserscheinungen.”

      „Abgesehen davon, dass deine Bemerkung nur knapp an der Grenze zur Geschmacklosigkeit vorbeischrammt, schreibe ich deinen Mangel an Einfallsreichtum übermäßiger Alkoholzufuhr zu.”

      Er zählte demonstrativ die Striche auf seinem Zettel und tippte sich dann an die Stirn.

      Doch ich fuhr ungerührt fort: „Falls du es übersehen haben solltest: Ich habe bisher nur dann den Privatermittler gespielt, wenn ich persönlich auf irgendeine Weise betroffen war. Horst war mein Freund und Peter Simonis und Conrad Hauprich waren Kollegen. Wenn überhaupt, würde ich mich nur dann reaktivieren lassen, wenn es wieder um jemanden aus meinem persönlichen Umfeld ginge – um dich zum Beispiel.” Ich übersah sein theatralisches Entsetzen. „Nein Heinz, mir geht es um etwas ganz anderes, etwas Existenzielles: Ich will nicht wieder in mein altes Leben abdriften, darum geht es mir!”

      „Nun, dann habe ich mit meinem Gedankenflug doch Recht – oder? Es muss ja nicht immer ein Mord sein. Eine kleine Entführung oder eine saftige Erpressung oder ein bisschen Wirtschaftskriminalität würde ja auch schon genügen. Warte nur ab, der nächste Fall kommt bestimmt. Vielleicht schon morgen”, frotzelte er und klopfte mir jovial auf die Schulter. „Auf mich brauchst du als Opfer allerdings nicht zu hoffen. So leicht werde ich es dir nicht machen. Und bei dem guten Berater, den ich habe, ist ja noch nicht einmal das kleinste bisschen Steuerhinterziehung drin.”

      Ich besann mich wieder auf männliches … Schweigen und Heinz schloss sich freundschaftlich an.

      Aber schon wenige Tage später fühlte ich mich bemüßigt ihn zu fragen, ob er etwa heimlich einen Volkshochschulkurs in Hellseherei absolviert hatte, mit Bestnote.

      Mittwoch, 6. April 2005

      Ich hatte mit Sonja ausgiebig gefrühstückt und mich dann um meine Katzen und Hunde gekümmert. Nach intensiver Zeitungslektüre und noch ein wenig Rumtrödeln kam ich gegen zehn Uhr dreißig in die Kanzlei. Ich ging an der verwaisten Zentrale vorbei in mein Büro, wo ich die Tür hinter mir zuzog. Das war seit Jahren ein Zeichen für alle Mitarbeiter, dass ich weder persönlich noch telefonisch gestört werden wollte.

      Mein Blick fiel von der immer noch trüben Aussicht vor dem Fenster auf meinen ebenso deprimierenden Schreibtisch. Im Laufe des Vormittags hatte sich erneut ein bedrohlicher Papierdschungel ausgebreitet. Und wieder einmal schaffte ich Ordnung, indem ich mich bemühte, zuerst einmal eine Bresche zu schlagen. Früher hatte das meine Sekretärin wenigstens in groben Zügen gemacht. Sie wusste, was dringend und was weniger wichtig war. Aber neben Telefondienst und am Empfang arbeitete Irene Dengler nur noch für den Übernehmer meiner Kanzlei, Carlo Dornhagen. Das war zwischen uns auch so vereinbart worden, dennoch vermisste ich ihre jahrelange Erfahrung und Übersicht.

      Ich schaute auf meinen Terminplan, dann auf die Uhr. In einer halben Stunde stand eine Besprechung mit einem Mandanten, Karl Söhngen, an. Im Zuge der Übernahme eines alteingesessenen Handwerkbetriebs in Albig wollte er expandieren. Bisher war der Betrieb darauf ausgerichtet, Bauherren und Hausbesitzern genormte Fertigfenster von Drittlieferanten zu empfehlen und einzubauen. Der frisch gebackene Unternehmer, hatte vor, sich zusätzlich auf die Sanierung von denkmalgeschützten Häusern zu spezialisieren und Holzfenster nach individuellem Aufmaß zu fabrizieren. In Rheinhessen zeichnete sich seit einigen Jahren ein positiver Trend beim Umbau und bei der authentischen Renovierung alter Bauern- und Winzerhöfe ab. Söhngens Ansicht nach gab es dadurch einen wachsenden Bedarf an originalgetreuen Fenstern.

      Bei meiner Beratung ging es um die Analyse der Machbarkeit seines Vorhabens, damit die Finanzierung günstig und sicher gestaltet werden konnte. Mehrere Stunden hatte ich mich sorgfältig auf die erbetene Beratung vorbereitet, recherchiert, gerechnet und anhand der ersten Zahlen ein sondierendes Bankgespräch geführt. Bis in die gestrigen Abendstunden hinein hatte ich noch ein Exposé vorbereitet, das inhaltlich und formal den banküblichen Anforderungen entsprach. Das wollte ich noch einmal kurz durchlesen, bevor ich es dem Mandanten vorlegte.

      Kerstin Neubert, eine neue Mitarbeiterin, streckte den Kopf zur Tür herein und fragte leise: „Kann ich Sie kurz stören?”

      „Worum geht es? Und zu flüstern brauchen sie auch nicht.”

      „Frau Dengler ist ja seit gestern auf einem Fortbildungsseminar und hat mich gebeten, die Telefonate entgegenzunehmen.” Sie deutete auf das Funktelefon in ihrer Hand und sah mich erwartungsvoll an.

      Sollte ich sie nun loben, weil sie es als neue Mitarbeiterin geschafft hatte, die Zentrale darauf weiterzuleiten oder was wollte sie? Ich blickte nervös auf die Uhr, dann auf das Exposé, das immer noch ungelesen vor mir lag, und schließlich zu ihr. „Schön. Und was wollen Sie mir damit andeuten?”

      „Na ja, und sie hat gesagt, ich solle Sie nicht stören,

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