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      Der nächtliche Aufschrei ließ Chris aus dem Schlaf hochschrecken. Vornübergebeugt saß er in seinem Bett und es dauerte, bis ihm bewusst wurde, dass es die eigene Stimme war, die ihn aus dem Traum gerissen hatte. Er lauschte in die Dunkelheit, ob sich vor seiner Tür etwas regte. Aber offenbar hatte niemand im Haus den Schrei gehört. Dann besann er sich auf die Bilder, die ihm in der nächtlichen Illusion erschienen waren.

      Sein Klassenkamerad, Scott Fitzgerald, saß zusammengekauert auf einem fleckigen Betonboden. Sein bis auf die weiße Unterhose nackter Körper wurde von diffusem, gelbem Licht spärlich beleuchtet. Ihn überragte eine große Gestalt, den Arm hoch erhoben und mit einem Gegenstand in der Hand, der einem Gürtel oder Lederriemen ähnelte. Mit voller Wucht sauste der Arm auf Scott Fitzgerald nieder. Als der Riemen den Rücken traf, zuckte und krümmte sich der Junge.

      War es nur ein Traum? Chris rieb sich die Augen. Es musste mitten in der Nacht sein. Was sollte er jetzt machen? Wüsste seine Mutter Rat? Gewiss lief es darauf hinaus, dass er zu ihr ins Bett kriechen und sie ihn beruhigen würde. Mehr nicht. War ein »Mehr« notwendig? Eine gefühlte Ewigkeit blieb Chris aufrecht im Bett sitzen, bis die Müdigkeit ihn zwang, sich wieder hinzulegen.

      »Wenn ich noch einmal einen Anruf des Nachbarn bekomme! Wie stehe ich denn da? Sorge ich mich nicht um dich? Und dann so was! Du wirst mich kennenlernen, mein Freund!« Wieder hob sich der Arm des Mannes mit der silbernen Schließe des Ledergürtels in der Hand.

      Angsterfüllt presste Scott Fitzgerald das Gesicht auf den kalten, staubigen Boden des Kellers, unmittelbar neben dem Heizkessel, der im selben Moment mit einem dumpfen Rumoren die Arbeit aufnahm, während Scott den Schmerz des auf ihn niedersausenden Leders erwartete. Doch statt das Brennen auf dem Rücken zu spüren, hörte er den Aufschrei seines Vaters. Scott Fitzgerald blickte vorsichtig über die Schulter, ohne den Kopf wesentlich vom Betonboden zu heben. Da sah er, wie sich sein Vater schmerzverzerrt die Hand hielt. Offenbar machte die Gürtelschließe Probleme.

      Als sein Vater die Hand nach vorne streckte und mit der Linken am Gürtel zog, erkannte Scott, dass der Verschluss rot glühte. Schon roch der Junge verbranntes Fleisch, während sein Vater verzweifelt versuchte, das Leder loszulassen. Aber aus irgendeinem Grund brannte sich das Metall in die Handfläche seines Vaters ein. Mit zusammengekniffenen Augen sackte der Vater auf die Knie, außerstande, das glühende Metall loszulassen. Eine kleine Rauchschwade stieg aus der Handfläche auf. Erneut roch es nach verbranntem Fleisch.

      Urplötzlich, so wie das Glühen des Metalls gekommen war, nahm die Gürtelschließe wieder ihren Urzustand an und fiel als Silberverschluss zu Boden. Zurück blieb eine gelbrote, fleischige Brandwunde in der Handfläche des Vaters. Hektisch erhob sich dieser, eilte nach draußen in den Flur des Kellers und Scott Fitzgerald hörte durch die angelehnte Tür das dumpfe Rauschen des Wassers im Plastikwaschbecken.

      Noch immer getraute der Junge nicht, sich zu bewegen. Zusammengekauert lag er lautlos im Eck des Kellerraums, in der angsterfüllten Erwartung dessen, was passieren würde, wenn sein Vater zurückkehrte. Doch der kam nicht. Nach unzähligen Minuten hörte Scott, dass der Wasserhahn abgestellt wurde. Tränen liefen ihm über die Wangen. Langsam setzte er sich auf und lehnte den mit Striemen übersäten Rücken an das kalte Metall des Heizkessels. Ein Brennen zuckte wie ein Blitz vom Rücken vor in den Bauch bis hinauf in seinen Kopf, als würde man Salz auf die offene Wunde streuen. Jedoch kühlte der Stahl und wenig später empfand er diese Kälte als wohltuend.

      Scott zitterte und wagte nicht, sich zu bewegen. Noch immer lauschte er auf Geräusche. Würde sein Vater wiederkommen? Hatte denn seine Mutter nicht registriert, wie Vater ihn mitten in der Nacht an den Haaren aus dem Bett zerrte, um ihn dann in den Keller zu schleifen? Vermutlich schlief sie tief und fest. Womöglich auch nicht. Egal, überlegte er. Mischte sie sich ein, lief sie Gefahr, ebenfalls den Gurt zu spüren. So oder so: Sie waren diesem kräftigen Mann, der vorgab, ein besorgter Familienvater zu sein, ausgeliefert.

      Erschreckt fuhr Scott Fitzgerald zusammen. Waren da Schritte in der Ecke des Kellerraums? War sein Vater doch zurückgekommen, um ihn wieder zu schlagen? Unmöglich, dachte Scott, er hatte die Tür nicht aus den Augen gelassen. Da, wieder ein Rascheln aus der Ecke, so als würden nackte Fußsohlen über den Boden schleichen. Sein Herz schlug noch hektischer als zuvor, während in seinen Ohren das Rauschen des Blutes dröhnte. Obwohl absolute Stille den Raum erfüllte, hämmerte es in seinem Kopf; völlig ausgeschlossen, zusätzliche Geräusche wahrzunehmen. Die Angst zerriss ihn förmlich und die Mauern schienen stetig, Meter für Meter auf ihn zuzukommen – ihn zu erdrücken.

      Aufs Neue begann er zu weinen. Zitternd verbarg er sein Gesicht in den Händen. Dort an der Wand ist doch nichts, schoss es ihm durch den Kopf und dennoch ängstigte ihn das Unheil, das in diesem Winkel des Raums herumzuschleichen schien. Schon lange verspürte er keine Angst mehr vor Gespenstern und Monstern, die im Dunkel seines Zimmers lauern könnten. Derartige Gefühle hatte ihm sein Vater längst herausgeprügelt. Und außer einem Kellerregal, vollgestopft mit alten Koffern sowie Lebensmitteln, gab es dort nichts.

      Blinzelnd versuchte der Junge erneut, mit tränenverschleierten Augen, zwischen den leicht gespreizten Fingern hindurch, etwas zu erkennen. Da – zuerst vage, verschwommen, dann deutlich. Jemand kam langsam auf ihn zu. Von kleiner Gestalt, nicht viel größer als er selbst. Er kam nicht dagegen an, die Hände noch fester auf das Gesicht zu pressen und jämmerlich zu schluchzen. Als er die Berührung auf der Schulter spürte, urinierte er in die Unterhose. Das warme Feucht lief ihm zwischen die Pobacken und bildete eine Pfütze. Sein Herzschlag setzte für Sekunden aus. Noch immer konnte er den Druck auf seiner Schulter spüren. Mitfühlend, sanft.

      Unmerklich öffnete er einen Spaltbreit die Lider und sah durch die Finger hindurch eine Gestalt, die genau vor ihm stand. Regungslos. Nicht im Versuch, ihn zu schlagen. Vorsichtig blickte Scott Fitzgerald auf. Nun erkannte er die Person. Wie war das möglich? Wie ist sie hierhergekommen? Gütige Augen, wenn auch in gleißendem Rot, sahen auf ihn herab. Vor ihm stand sein Klassenkamerad Chris! Wie ein Gespenst mit blasser, fahler Haut.

      »Ich habe dich gewarnt, Hulk. Du musst mit jemandem sprechen. Für heute wird dein Vater Ruhe geben. Doch niemand weiß, wie lange. Du und deine Mutter – ihr seid in Gefahr. In großer Gefahr!«

       Kapitel 42: Seit jener Nacht

      Seit jener Nacht machte Scott Fitzgerald einen gewaltigen Bogen um Chris. Weder sprach er ihn darauf an, wie es denn sein konnte, dass dieser im Keller des Hauses erschienen war, noch wagte er seither, dem Klassenkameraden direkt in die Augen zu sehen. Er beschloss, dass Chris, ebenso dessen Schwester Meira und deren Freundin Alica nicht mehr existierten. Sie wurden regelrecht Luft für ihn, da in ihrer Gegenwart in seinem tiefsten Inneren ein Hurrikan wütete. Von da an wagte sich Scott nicht einmal mehr in die Nähe von Chris, vom Gefühl gepeinigt, ein Wirbelsturm, der den Mitschüler umgab, würde ihn ins Jenseits befördern.

      Aus dem ehemals lautstarken Hulk wurde ein in sich gekehrter, verängstigter Junge. Auch suchte er keine Hilfe bei seiner Lehrerin Miss Rudolph, so, wie es Chris ihm zweimal empfohlen hatte. Beide Male hatte der Albino diesen Rat erteilt, jedoch auf derart gespenstische Weise, dass Scott Fitzgerald Schweißausbrüche bekam, wenn er nur daran dachte. Selbst wenn er mit Miss Rudolph sprechen würde: Was sollte sie schon bewirken können?

      Hinzu kam, dass seit jener Nacht im Keller die Schläge des Vaters ausblieben. In den Tagen und Wochen nach diesem Vorfall hatten weder Scott noch seine Mutter neue blaue Flecken, die sie durch ihre Kleidung immer zu verdecken gesucht hatten. Ganz im Gegenteil: Scotts Vater, all die Jahre in der Außenrolle ein solider, vertrauenerweckender Nachbar, Arbeitskollege und Kirchgänger, jedoch hinter verschlossener Tür ein nicht einzuschätzender, gewalttätiger Choleriker, änderte sich grundlegend.

      Schon kurze Zeit nach den Verbrennungen an Vaters Hand trat die Veränderung ein, die sowohl Scott Fitzgerald wie auch seine Mutter anfangs für eine neue, gefährliche Marotte hielten. Nächtelang studierte Mr. Hunt die Bibel oder surfte auf christlichen Seiten im Internet. Neuerdings betete er vor dem Essen. Ein Zeremoniell, welches Mutter als auch Sohn in Staunen versetzte. Zudem verwunderte Scott

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