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zu sein. Aber der Rahmen ist beschädigt. Das krieg ich hin.“ Bis zum Mittag hatten Nora und Leo alles gefunden, was sie suchten und ins Zwischenmagazin gebracht.

      Was Nora allerdings noch ans Tageslicht befördert hatte, verschwieg sie Leo: Ein kleines, in braunes Leder gebundenes Büchlein. Es hatte neben dem Gemälde von Wilhelmine Ernst in einem Pappkarton gelegen, zusammen mit ein paar Haarspangen aus Schildpatt, Kämmen, einem silbernen Löffel und anderen Kleinigkeiten. Der Name auf dem Karton sagte Nora nichts, „Nachlass Marie Kubelka“ hatte darauf gestanden. Nur das Buch hatte sie interessiert, ein Tagebuch aus dem Jahre 1888. Wem mochte es wohl gehören? Marie Kubelka? Es war fest mit einem Band verknotet, sodass Nora nicht sofort hineinschauen konnte. Wenn es jemandem aus Neustadt gehört hatte, der im neunzehnten Jahrhundert hier gelebt hatte, würde es vielleicht neue Details zur Stadtgeschichte liefern; die wollte sie als Erste erfahren. Vorsichtshalber hatte sie das Buch unauffällig in ihre Handtasche gleiten lassen.

      Zurück im Büro ging Nora die E-Mails des Architekten durch, die in der Zwischenzeit gekommen waren. Jörg Lehmann hatte die vervollständigten Pläne für die beiden Räume geschickt. Schon im frühen Stadium der Ausstellungsvorbereitung war die Arbeitsgruppe der Stadtverwaltung zusammengekommen und hatte den Fahrplan vorgegeben. Die Ausstellungsmacher sollten bei der Darstellung der Stadtgeschichte nicht mehr der Chronologie folgen, sondern nach Themen geordnet vorgehen. Nora wusste, dass das der Trend in großen Museen war. Dort tobten sich teuer bezahlte Architekten aus, die oft riesige Bauten in dafür zu kleinen Räumen errichteten, um dann möglichst wenige Objekte auszustellen. Am Ende sah es überall gleich aus. Sogenannte Medienstationen ersetzten die Originale durch Fotos. Klar, dass die Stadtverwaltung in Neustadt und ganz besonders die Schneekönigin das Modernste wollten, wenn sie schon Geld in die Hand nahmen. Glücklicherweise war es allerdings um die Finanzen doch nicht so rosig bestellt, und man musste im Rathaus kleinere Brötchen backen. Am Ende redete niemand mehr von Themeninseln. Bei nur zwei Räumen wäre das auch Unfug gewesen, fand Nora. Sie mussten sich sowieso an den vorhandenen Ausstellungsobjekten orientieren. Mit dem Plan von Herrn Lehmann war Nora dann ganz zufrieden. Die Vitrinen waren den Gegebenheiten der Villa angepasst und nicht allzu großzügig umbaut. Für lichtempfindliche Objekte hatte der Architekt Schubladen vorgesehen, die bei Bedarf von den Besuchern geöffnet werden konnten. Medienstationen sollten später nachgerüstet werden. Dafür reichte das Geld erst mal nicht. Nora sah sich die Pläne noch einmal an. Sie wiesen Lücken für die fehlenden Objekte auf.

      Spätestens nächste Woche, schrieb Lehmann, müsse sie die Daten liefern, damit die Vitrinen in Auftrag gegeben werden konnten.

      Sie griff zum Telefonhörer. „Hallo, Johannes, ich wollte Sie noch bitten, die neuen Objekte zu fotografieren. Sie sind alle schon im Zwischenmagazin.“

      „Ich weiß. Leo hat es mir gesagt. Ich fange gleich an.“

      Nora holte Luft, aber bevor sie weiterreden konnte, fuhr ihr Praktikant fort: „… und mache alles, was wir besprochen haben. Die Liste bekommen Sie morgen früh, Chefin.“

      Sie lächelte. „Danke! Viel Spaß. Es ist ein sehr schönes Gemälde dabei. Sie werden Ihre Freude daran haben.“ Sie legte auf.

      Während des Telefonats mit Johannes hatte Nora die ganze Zeit an das Tagebuch in ihrer Tasche gedacht. Jetzt holte sie es hervor und betrachtete es von allen Seiten. Es war fast quadratisch und maß rund fünfzehn Zentimeter auf jeder Seite. Die Schrift auf dem Deckel war goldfarben. Die metallene, leicht verrostete Schließe war mit einem starken Band verknotet. So sehr Nora sich auch bemühte es aufzuknüpfen, gelang es ihr nicht, den Knoten zu lösen. Langsam wurde sie ungeduldig und nahm eine Nadel zu Hilfe. Doch auch damit bekam sie die Schlaufe nicht auf. Sie beschloss, das Problem auf den nächsten Tag zu verschieben und legte das Buch in die unterste Schreibtischschublade. In dem Moment klingelte ihr Handy. Es war Sanne. „Sanne, endlich, bist du gut gelandet?“ Nora freute sich, die Stimme ihrer Freundin zu hören. Sie war drei Wochen im Ausland gewesen und sie hatten kaum voneinander gehört, abgesehen von ein paar SMS. „Ja, alles gut. Ich muss erst mal ins Bett. War sehr anstrengend, aber auch schön. Erzähl ich dir dann. Wann hast du denn Zeit für ein Glas Wein?“

      Nora überlegte nicht lange. „Wie sieht es Freitag aus? Ich könnte bei dir übernachten. Und vorher gehen wir was essen.“ Sanne gähnte herzhaft. „Klingt gut, bis dann.“

      12

      Die Woche verstrich wie im Flug. Nora hatte viel geschafft. Die endgültige Objektliste war fertig. Nun konnte Lehmann weiterarbeiten. Immerhin mussten die Pläne ja noch der Schneekönigin vorgelegt werden, bevor der Auftrag an die Vitrinenbauer ging. Aber Günther hatte ihr wohl schon den vorläufigen Entwurf gezeigt, sodass sie mit ihrem Einverständnis rechnen konnten. Auch mit den Texten hatte Nora bereits begonnen. Das Schwierigste daran war, die vorgegebene Zeichenzahl einzuhalten. Das umfangreiche Material, das sie gesammelt hatte, musste gekürzt werden bis auf die Informationen, die wirklich wichtig waren. Schließlich sollte das Ganze ja für den Besucher noch lesbar sein. Weniger war da manchmal mehr. Eine einheitliche Struktur hatten sie gemeinsam mit der Grafikerin festgelegt. Es war klar, an welchen Stellen der Ausstellung welche Texte in welcher Größe platziert werden sollten. Das erleichterte die Arbeit. Nora war frohen Mutes, dass sie bis zum Abgabetermin fertig werden würde. In größeren Museen erledigten diese Arbeit professionelle Texter. Leider hatte auch dafür das Geld nicht gereicht.

      Am Freitag, kurz vor Feierabend, fiel Nora das Tagebuch wieder ein. Beim ersten Versuch, es zu öffnen, war sie vorsichtig gewesen. Jetzt ruckelte und zerrte sie so lange an dem Knoten herum, bis das Band nachgab und sich endlich löste. Gespannt schlug sie es auf. „Oh!“, entfuhr es ihr vor Überraschung. „Wilhelmine Ernst“ stand in deutscher Kurrentschrift auf der ersten Seite. Das war ja ein Ding! Sie hielt tatsächlich das Tagebuch der Malerin in der Hand. Wie es wohl in den Nachlass von Marie Kubelka gekommen war? Sie blätterte weiter. In hastig hingeschmierter, schlecht lesbarer Schrift, hatte Wilhelmine ihre Eintragungen verfasst. Nora runzelte die Stirn. Sie würde sich erst eine Weile einlesen müssen. Leider beschränkten sich die Einträge nur auf einen Zeitraum von fünf Monaten des Jahres 1888, als die Malerin einundzwanzig wurde, wie Nora schnell nachrechnete. Manche Seiten waren mit Zeichnungen verziert. Auch ein loses Blatt mit einem Frauenporträt lag dabei. Wer das wohl sein mochte? Sie würde es sich später genau ansehen. Die spärlichen Informationen, über die sie verfügte, hatte sie alten Aufzeichnungen ihrer Vorgänger entnommen, die Karteien über einheimische Malerinnen und Maler geführt hatten. Vielleicht kam jetzt Licht ins Dunkel und Nora erfuhr mehr über das Leben der Künstlerin Wilhelmine Ernst in Neustadt und in Berlin. War sie mit dem Wissen ihrer Eltern in die Hauptstadt gereist? Wo und vor allem wovon hatte sie dort gelebt? Wohnte sie allein? Nora wusste auch, dass sie zehn Jahre vor ihrem Tod 1930 in ihre Heimatstadt zurückgekehrt war und hier verstarb. Zumindest einmal war sie in der Zwischenzeit in Neustadt gewesen, nämlich 1890 zur Beerdigung ihrer Großmutter. In dem Jahr hatte sie ja auch das Gemälde Die Eisenbahn kommt geschaffen. Nora sah auf die Uhr. Sie musste gleich los. Aber für den ersten Eintrag würde die Zeit wohl noch reichen. Sie setzte ihre Brille wieder auf und begann zu lesen.

       7. Januar

       Heute erwachte ich spät. Einzelne Sonnenstrahlen quälten sich hie und da durch die Ritzen der dicken Fenstervorhänge. Ich sprang aus dem Bett und zog sie ganz auf. Was für ein herrlicher Tag mich anlachte! Ich holte meine Malsachen und lief im Nachtgewand wieder ans Fenster. Von Zeit zu Zeit schaute ich hinaus in den verschneiten Garten. Dieses weiße, graue, schwarze, rosa Weiß! Der Zeichenstift flitzte wie von selbst über das Papier. Plötzlich empfand ich so eine tiefe Freude. Das stille Winterwetter da draußen, die kleinen Schneehügel und die von Flocken übersäte Tanne am Zaun, alles hielt ich fest. Ich war so glücklich, daß ich das sehen durfte und noch mehr, daß dieser Tag nun für die Ewigkeit festgehalten ward. Aber was sage ich? Für die Ewigkeit? Ich weiß nicht. Manchmal zerreiße ich meine Blätter wieder. Ich bin voller Zweifel. Meine einzige Bewunderin ist mein liebes Mariechen, meine alte, stumme Amme. Sie trat neben mich und ihre Augen wurden groß. Sie staunt jedes Mal, wenn ein Bild fertig ist und verbirgt es sofort in der großen Truhe. Der Vater sieht es nicht gern, wenn ich zeichne. Wie herrlich wars in der Schule! Herr Böhm,

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