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darüber hinweg und setzte die Verfolgung des flüchtenden Verdächtigen fort.

      „Nimm das Bündel mit, Hogan!“

      Genau in dem Moment, als der schlaksige, blasse, unterernährte Tatverdächtige es bis zu der Tür geschafft hatte, bekam sie ihn hinten an der Jacke zu fassen, warf ihn mit dem Gesicht nach unten zu Boden, drückte ihm das Knie zwischen die Schulterblätter und rief: „Hände auf den Rücken!“

      „Ich hab nichts gemacht.“ Er war jung, höchstens achtzehn. In letzter Zeit machten ihnen die ganz Jungen zu schaffen.

      „Ach, nichts also … und wieso bist du dann weggerannt?“ Sie legte ihm Handschellen an, durchsuchte ihn nach Waffen und fand ein Messer, eine Crack-Pfeife und einen Beutel.

      „Ich musste pinkeln.“

      Beck ließ den Beutel vor seiner Nase baumeln und musste fast wegen des Gestanks, der daraus hervorkam, würgen. „Und das hier?“

      „Das hab ich noch nie im Leben gesehen. Das haben Sie mir untergeschoben.“

      Hogan hing an dem Gitterzaun fest, weil sich eins seiner Hosenbeine darin verfangen hatte. Fluchend riss er sich los, und sie hörte, wie der Stoff seiner Diensthose riss und er ächzend zu Boden fiel.

      Seufzend senkte sie den Kopf, zog den Verdächtigen hoch auf die Füße und stieß ihn zu Hogan hin.

      „Bring ihn schon mal zum Wagen. Ich schau mir den Beutel an.“

      Im gelblichen Licht der Hausbeleuchtung konnte sie jetzt das Profil des Verdächtigen erkennen.

      „Ach, wen haben wir denn da? Na, wenn das nicht Parker Boudreaux ist.“

      Er war ein drogensüchtiger Jugendlicher von der schicken Upper West Side, der an diesem Feiertag offenbar nichts Besseres zu tun hatte, als Drogen zu verticken.

      „So trifft man sich wieder, Sergeant Holiday“, sagte er und stolperte in Hogans Richtung. „Aber ich bin sowieso vor Mitternacht wieder draußen.“

      Beck hatte keinen Zweifel daran, dass Boudreaux’ reicher Vater ihn rechtzeitig rausboxen würde, damit er das neue Jahr mit Champagner und einer Nase Koks begrüßen konnte. Aber fürs Erste hatte sie ihn am Schlafittchen.

      Drei Mal hatte sie ihn schon festgenommen, weil er in Alphabet City mit Drogen gedealt hatte. Er arbeitete für einen gerissenen Dealer, hinter dem das neunte Revier schon seit Langem her war.

      „Wissen deine Eltern, dass du hier bist und für deine nächste Dröhnung arbeitest? Was für eine Vergeudung von Potenzial, Boudreaux.“

      Beck stand bei dem versteckten Drogenvorrat, den er hatte fallen lassen, und rechnete damit, ein paar hundert Milligramm Crack zu finden – immer ein ganz kleines bisschen zu wenig, als dass es als Straftat gewertet wurde.

      „Ich hab nichts mit Drogen zu tun. Da müssen Sie mich verwechseln. Ich bin nur auf dem Weg zu einem Freund, der eine Silvesterparty schmeißt.“ Boudreaux stand gegen den Gitterzaun gelehnt da, während Hogan versuchte, das Tor zu öffnen. „Wenn Sie mir die Handschellen abnehmen, mach ich es für Sie auf“, sagte er.

      Hogan ächzte, als er, die Taschenlampe unters Kinn geklemmt, heftig an dem Riegel zerrte.

      Beck wartete und schaute zu. „Ruf den Super an, Hogan.“

      „Du brauchst mir nicht meinen Job zu erklären, Holiday“, antwortete er darauf nur bissig.

      Sie schaute ihm noch einen weiteren Moment zu und beugte sich dann hinunter zu Parkers widerlich stinkenden Jutebeutel. Es verstand sich wirklich von selbst, dass der Superintendent angerufen werden musste.

      Aber Hogan war nun mal Hogan, ein Polizist vom alten Schlag, der mehr über Verbrechen und Donuts wusste als jeder andere Polizist, den sie sonst kannte.

      Er hatte sie in der Praxis ausgebildet, ihr beigebracht, wie man den Job machte, und er war es auch gewesen, der ihr zugehört hatte, wenn sie die Welt nicht mehr verstand.

      Doch eine schlimme Scheidung und Alkoholprobleme hatten ihn fast den Job gekostet. Er war erst vor Kurzem wieder aufs neunte Revier zurückgekehrt und wollte sich unbedingt rehabilitieren. Es fühlte sich seltsam für sie an, jetzt seine Vorgesetzte zu sein, obwohl sie erst seit etwas über einem Jahr Sergeant war.

      „Hey, hübsche Polizei-Lady, wie wär’s, wenn Sie mich einfach laufen lassen?“ Boudreaux verlegte sich jetzt aufs Verhandeln. „Ich kann dafür sorgen, dass es sich richtig für Sie lohnt. Und seit wann ist es eigentlich verboten, einen Freund zu besuchen?“

      Hogan bearbeitete den Riegel des Tores jetzt mit dem Schaft der Taschenlampe und ein paar deftigen Flüchen. „Glaub ja nicht, dass du mit so ’nem Gesülze weiterkommst – und schon gar nicht bei ihr“, sagte er zu dem Jungen.

      Schon gar nicht bei ihr. Früher hätte das wahrscheinlich sogar gestimmt, aber in letzter Zeit hatte sie sich deutlich verändert. Sie hatte angefangen zu fühlen.

      Plötzlich kamen ihr bei den kleinsten Kleinigkeiten die Tränen – zum Beispiel, wenn sich ein Kind verletzt hatte oder eine alleinerziehende Frau sich aus ihrer Wohnung ausgesperrt hatte, ganz zu schweigen von den wirklich harten Sachen wie einem Selbstmord oder wenn sie jemanden über den Tod eines Angehörigen informieren musste. Vor einem Jahr – ach was, noch vor einem halben Jahr – hatte sie so etwas noch mit einem Bier im Rosie’s abgeschüttelt.

      Doch in letzter Zeit fiel es ihr immer schwerer wegzuschauen und die Unmenschlichkeit, das Absurde und die Verzweiflung abzuschütteln, die ihr auf der Straße begegneten. Diese neue Empfindsamkeit und das daraus resultierende Mitgefühl brachten sie durcheinander und gingen ihr ehrlich gesagt auch auf die Nerven.

      „Du brauchst andere Freunde, Boudreaux“, sagte Beck, krempelte den völlig verdreckten Jutebeutel auf und ihr stieg der Geruch von … Exkrementen und Verwesung in die Nase. Sie schreckte zurück, hielt sich die Nase zu und erschrak, als sich der Beutel bewegte.

      Mit einem Ruck zog sie ihre Hand zurück, richtete das Licht ihrer Taschenlampe in die Beutelöffnung und sah das schmutzige, wachsame Gesicht eines kleinen, grauen Hundes, der sie mit wässrigen Augen flehend ansah.

      „Boudreaux!“, rief Beck entsetzt, ließ sich auf die Knie fallen, nahm den kleinen Hund vorsichtig aus dem abgenutzten Beutel und vor Mitgefühl kamen ihr die Tränen.

      Der Hund winselte und jaulte auf, als sie seinen stark geschwollenen Brustkorb abtastete. Das völlig verfilzte Fell hob und senkte sich und das Tier kämpfte um jeden flachen Atemzug.

      Sie würde ihn umbringen. Umbringen. „Ach, du süßes kleines Ding. Es tut mir so leid. So leid! Was hat er denn bloß mit dir gemacht?“ Aber das wusste sie eigentlich schon. Sie wusste es.

      Sie strich dem Hund mit der Hand über den Rücken und konnte jede Rippe und jeden Knochen fühlen. Wieder jaulte der Hund auf, als sie seinen Bauch berührte. Der Geruch – nach Erbrochenem und Exkrementen – klebte in seinem Fell, an seiner Haut und stieg Beck in die Nase.

      „Hey, Cop, der Hund gehört meinem Freund. Hören Sie mir eigentlich nicht zu?“

      Beck stand jetzt auf und rückte den noch steifen Hosenbund ihrer neuen Diensthose zurecht. Sie hatte endlich kapituliert und sich eine größere Hose gekauft, um ihrem wachsenden Bauch mehr Platz zu verschaffen.

      „Der Hund von deinem Freund also, ja?“

      „Sie haben mich genau verstanden. Ich stottere ja nicht.“

      Beck zitterte innerlich, obwohl sie die äußere Kälte gar nicht spürte, und ballte ihre Hand zur Faust. „Hast du ihn diese Plastiktüte schlucken lassen?“

      Sie hielt einen Gefrierbeutel zwischen Daumen und Zeigefinger hoch, der genauso bestialisch stank wie der Hund.

      „Welche Plastiktüte denn? Ich hab keine Tüte gesehen.“ Seine versnobte Betonung schürte ihren Zorn und ihre Verachtung noch mehr.

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