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griff zur Rotweinflasche, um sich nachzuschenken. »Ich komme mit, denn wer weiß, vielleicht kriege ich bald einmal eine Rolle, in der ich mich duellieren muss, und dann ist es sicher von Vorteil, so etwas schon einmal mit eigenen Augen gesehen zu haben.«

      So saßen sie denn am 10. März schon frühmorgens in einer Droschke, um sich durch den Thiergarten nach Lietzow fahren zu lassen. Rechts hinter dem Charlottenburger Schloss ging es über die Spree hinweg. Auf der Holzablage hinter der Brücke entdeckten sie Louis Krimnitz, der gerade beim Löschen einer für ihn bestimmten Ladung Hand anlegte. Sie winkten ihm zu, sahen aber keinen Anlass, anzuhalten und mit ihm zu plaudern. Die Gefahr, zu spät zu kommen, war zu groß, und Krimnitz musste ja auch nicht unbedingt wissen, was sie zu dieser frühen Stunde in die Jungfernheide trieb.

      »Ein komischer Kerl«, sagte Benno Frühbeis. »Ich traue ihm nicht so recht über den Weg.«

      »Er hängt an mir wie eine Klette.«

      »Eher wie ein Parasit«, korrigierte ihn Frühbeis.

      »Wie auch immer – ohne mich kann er sich aufhängen, und ich möchte nicht schuld daran sein. Außerdem brauche ich ihn bei meinen Festen. Keiner singt so schön wie er die schauerlichsten Balladen, und keiner schleppt so schöne Frauen herbei.«

      Knapp hinter dem Belvedere, wo die Spree einen scharfen Bogen nach Westen machte, ließen sie den Kutscher halten. Sie entlohnten ihn und wanderten dann einen staubigen Feldweg entlang, der zum Nonnendamm führte. Über die Nonnenwiesen, deren östlichen Zipfel sie gerade berührten, zogen feuchte Nebelschwaden.

      »Welch eine Kulisse!« Benno Frühbeis geriet ins Schwärmen.

      »Doch diese Morgenstunde hat nicht Gold, sie hat den Tod im Munde«, sagte Rana.

      »Ist das nicht dasselbe? Nur der Tod nimmt uns die Angst vor ihm. Also ist er golden.«

      »Verschon mich mit deiner verqueren Philosophie!«, rief Rana. »Das Einzige, was mir am Tod gefällt, sind die Todsünden, zwei vor allem: die Wollust und die Völlerei.«

      So ging es noch eine Weile hin und her, bis sie auf ein breites Waldstück stießen, an dessen südlichem Rand sich der Königsdamm von Spandau Richtung Wedding zog. Bald entdeckten sie die beiden kleinen Gruppen um v. Rochow und um v. Hinckeldey und suchten Deckung hinter einem Wall aus aufgehäuften Feldsteinen, umgestürzten Bäumen und verfilzten Brombeerbüschen.

      Die Lichtung wurde zur Bühne, und sie bekamen ein Drama zu sehen, wie es nicht mal das Königliche Schauspielhaus zu bieten hatte.

      »Ein bisschen absurd ist es schon«, flüsterte Benno Frühbeis. »Da lässt der Junkerclub auf einen schießen, der selber von Adel ist und, indem er die Opposition niederhält, doch nur dessen ureigenste Interessen vertritt.«

      »Egal, ich bin für Rochow, denn Hinckeldey hat mich um ein Haar in den Ruin getrieben.« Worauf Rana da anspielte, war die Affäre um die »Einmann-Pissoirs«. Hinckeldey hatte sich schon lange über das wilde Plakatieren in der Stadt geärgert und den Unternehmer Ernst Litfaß über 150 Reklamesäulen aufstellen lassen. Die waren innen hohl und boten Platz für ein kleines Urinal. Zwang man die Männer dort hinein, war viel für die öffentliche Schicklichkeit wie die Hygiene getan. Die Berliner nannten ihren Polizeipräsidenten daraufhin »Pinkel-Bey« und reimten: »Ach, lieber Vater Hinckeldey, / mach uns für unsre Pinkelei / doch bitte einen Winkel frei.« Aber die Sache scheiterte schließlich, weil sie den einen zu albern und den anderen wegen des schwer zu installierenden Abflusses zu teuer erschien. Rana aber hatte schon einige Vorleistungen erbracht und war nun um einiges ärmer geworden.

      Benno Frühbeis packte ihn am Arm. »Pass auf, Hinckeldey zielt schon.«

      Als Beleidigter hatte der Polizeipräsident den ersten Schuss. Doch seine Pistole versagte. Als er mit seiner Waffe zum zweiten Mal anlegte, verhöhnte ihn Rochow auch noch, indem er ihm eine besonders breite Brust darbot. Die Kugel ging prompt um einiges daneben.

      »Jetzt Rochow!« Benno Frühbeis duckte sich und schloss die Augen.

      Rana dagegen reckte den Kopf in die Höhe. »Er wird so nobel sein und Pinkel-Bey am Leben lassen.«

      »DIE BERLINER KIRCHHÖFE verdienen eine besondere Beachtung«, heißt es im 1861 erschienenen Berlin-Führer von Robert Springer, »nicht nur wegen ihrer freundlichen Anlagen und wegen der sorgfältigen Pflege der Gräber, sondern auch wegen der Denkmäler der merkwürdigen Männer, deren Überreste auf ihnen ruhen.« Auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof waren es der »Philosoph und Kanzelredner« Schleiermacher und Ludwig Tieck, der »Reigenführer der Romantiker«. Auf dem Kirchhof der Invaliden fanden sich die Gräber der Generale Scharnhorst, Tauentzien und Winterfeld, und der Dorotheenstädtische Kirchhof hatte Fichte, Hegel, Hufeland, Schinkel, Beuth und Borsig zu bieten. Der Hallesche Kirchhof, die alte Begräbnisstätte der Jerusalemer Gemeinde, stand ihm aber mit E. T. A. Hoffmann, Chamisso, Iffland und Heim kaum nach. »Auf zehn verschiedenen Kirchhöfen«, schließt Springer, »sind jetzt Leichenhäuser für Todte, zur Errettung vom Scheintode, eingerichtet …«

      Nicht erwähnt ist der alte Friedhof der Nikolai- und Mariengemeinde an der Prenzlauer Allee, auf dem Carl Ludwig Friedrich v. Hinckeldey seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Und scheintot war er auch nicht gewesen, denn zu präzise, nämlich links zwischen der vierten und der fünften Rippe, war ihm Rochows Kugel in die Brust gedrungen. Der Arzt, der dem Duell beigewohnt hatte, konnte nichts mehr ausrichten.

      Eine große Zahl von Berlinerinnen und Berlinern war herbeigeströmt, um dem Polizeipräsidenten die letzte Ehre zu geben.

      »Die Berliner sind schon ein komisches Völkchen«, fand Benno Frühbeis, der aus dem Fränkischen kam. »Erst hassen sie diesen Hinckeldey, dann machen sie ihn zum Märtyrer. Und sogar die Freunde seines Mörders kommen zu seiner Beerdigung.« Das war auf Rana gemünzt, der neben ihm stand.

      »Ich bin ja kein Berliner, ich bin Österreicher.« Der Architekt lachte und wies nach vorn, wo seine Majestät Friedrich Wilhelm IV. zu sehen war, und mit ihm waren General von Wrangel, früherer Vorgesetzter Hinckeldeys, und fast alle Kabinettsmitglieder anwesend. »Wo so viele noble Menschen sind, darf ich nicht fehlen. Schließlich war ich in meinem frühen Leben auch mal König, wenn auch nur Froschkönig.«

      »Fehlt nur noch, dass Rochow selber die Grabrede hält.«

      Der war aber in seiner Wohnung Unter den Linden verhaftet worden, nachdem man ihn, als der Duelltod des Polizeipräsidenten bekannt geworden war, im preußischen Herrenhaus kräftig gefeiert hatte.

      Hunderttausend Menschen folgten dem Sarg vom Trauerhaus zum Beerdigungsplatz, denn die Berliner sahen das Ganze als politischen Mord, zumal das Gerücht ging, dass noch zwei »Ersatzleute« des Junkerclubs bereitgestanden hätten für den Fall, dass Hinckeldey der Gewinner des Duells gewesen wäre. Hinckeldey wurde nun als einer gesehen, der gegen die verhassten Junker Front gemacht hatte. Außerdem hatte er sich nie persönlich bereichert und der Stadt vieles Segensreiche beschert, so die erste Telegrafenanlage für Polizei und Feuerwehr, die längst nötige Kanalisation, ein Wasserwerk und eine nicht geringe Anzahl von Gesindeherbergen, Volksküchen, Bade- und Waschanstalten. Als der Sohn des Lokomotivkönigs August Borsig am Grab für die Familie Hinckeldeys sammelte – sieben Kinder waren zu versorgen –, kamen nahezu 11 000 Thaler zusammen.

      »So viel würden es bei mir nicht werden«, sagte Rana.

      Benno Frühbeis lächelte. »Du wirst ja auch nicht bei einem Duell enden, sondern im Bett einer Kurtisane.«

      »Weiß man’s?« Rana zeigte auf Friedrich Silberstein, der gerade an der Seite seines Sohnes vorüberkam. »Dieser Hundsfott übt bestimmt schon jeden Tag.«

      »Nun mal’s nicht an die Wand.«

      »Warum nicht, es gäbe ein schönes Gemälde.«

      IM JAHRE 1857 zeigte der Grundriss von Berlin mit nächster Umgebung – Entworfen und gezeichnet von Leopold Kraatz einen farbenfrohen Flickenteppich, der die Form einer Schildkröte hatte. Das Hinterteil bildete das orange schraffierte

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