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      Der Lauf der Zeit entzieht sich der direkten Wahrnehmung. Die Sinnesorgane liefern uns lediglich Informationen über die Gegenwart – genau genommen noch nicht einmal über diese: Bis die Sinneseindrücke das Bewusstsein erreichen, sind schon wieder Zehntelsekunden vergangen...

      Dessen ungeachtet ist die Orientierung in der Zeitdimension, das Erkennen von Veränderungen lebenswichtig. Jedwede Logik basiert auf Kausalität, der Unterscheidung zwischen einer Ursache und der darauf folgenden Wirkung, zwischen 'davor' und 'danach'.

      Der Austausch über die Resultate logischer Überlegungen setzt folglich bei allen Beteiligten ein gleichartiges Verständnis von Zeit voraus. Um einzelne Ereignisse sinnvoll einzuordnen, ist zumindest eine relative Zeitangabe erforderlich ('...geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war'). Noch besser ist natürlich ein einheitlicher Maßstab, der es erlaubt, jedes Geschehen in der Vergangenheit eindeutig zu datieren.

      Zu diesem Zweck boten sich schon früh die ins Auge fallenden zyklischen Vorgänge am Himmel an: Der Tageslauf der Sonne, sowie ihre Bewegung mit den Jahreszeiten. Einfacher zu erfassen war allerdings der fortlaufende Wechsel der Phasen des Mondes. Mit dem Neulicht der feinen Mondsichel ist der Tag leicht festzulegen, an dem ein neuer Monat begonnen hat.

      Wie nicht anders zu erwarten, stehen Erdrotation, Mondlauf und Sonnenjahr in keinem ganzzahligen Verhältnis zueinander. Sollen Tage und Monate gleichbleibend über das Jahr verteilt werden, so sind in jedem Fall entsprechende Schaltregeln erforderlich.

      Der Nutzen einer eindeutigen Jahreszählung wurde schon früh erkannt. Wurden als nahe liegender Bezug zunächst die Regierungszeiten der Herrscher herangezogen, so wurden diese bald über deren Tod hinaus fortgeführt. Der nächst Schritt bestand im Bezug auf singuläre Ereignisse. In dieser Hinsicht nicht zu übertreffen war die Erschaffung der Welt. Leider erwies es sich als praktisch unmöglich, deren Zeitpunkt zu bestimmen...

      Auch wer sich nicht für die Feinheiten des Kalenders und der Jahreszählung interessiert, wird dessen allgemeine Gültigkeit als gegeben betrachten; denn nur auf dieser Grundlage ist letztlich die eindeutige Einordnung geschichtlicher Überlieferung möglich und damit deren Verständnis. Jeder Eingriff in diese wäre ein Frevel, der den logischen Zusammenhang vom Beginn der Zeit bis zur Gegenwart bedroht – und damit auch das Selbstverständnis des geschichtsbewußten Menschen.

      Aus diesem Grund war es auch kein Wunder, dass selbst die vergleichsweise geringe Korrektur des Julianischen Kalenders durch Papst Gregor XIII. im Jahre 1582, mit der die aufgelaufene Abweichung der Tag-und-Nacht-Gleiche durch Überspringen von 10 Tagen ausgeglichen wurde, über lange Zeit auf den allerheftigsten Widerstand stieß:

       Der Superintendent in Curland, Paul Einhorn, errung sich durch seinen Eifer, mit welchem er sich der Annehmung des gregorianischen Kalenders widersetzte, die Kalender-Märtyrerkrone, indem er im J. 1655 am 11ten Sonnt. nach Trinit. auf der Kanzel mitten in einer Kalenderpredigt blieb, und sein Leben mit den Worten: „verflucht sey der Kalender!” endigte.1

      Heute wird die Zeit mit Hilfe von Cäsium-Atomen gemessen. Man bezieht sich dabei auf die Periode von elektromagnetischen Wellen, die beim Übergang eines Atoms zwischen zwei seiner Energieniveaus ausgesandt werden. Auf diese Weise wurde im Jahre 1967 die Maßeinheit Sekunde neu definiert:

       »Die Sekunde ist das 9.192.631.770-fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133Cs entsprechenden Strahlung.«

      Ist es bei einem derart präzisen Maßstab für die Zeitmessung nicht völlig unvorstellbar, dass dieser irgendwo eine Lücke besitzt, die bislang übersehen wurde? Das ist es nicht! Wie wir sehen werden, wurde diese Lücke nicht übersehen: Sie wurde ignoriert – eben weil ihre Existenz unvorstellbar, weil schon der Gedanke an eine solche Möglichkeit unerträglich war!

       Gesicherte Erkenntnisse – gibt es so etwas?

      Woher können wir eigentlich wissen, wie lange wichtige Ereignisse zurück liegen? Besteht denn überhaupt eine Chance, zuverlässige Erkenntnisse über das Vergangene zu gewinnen? Zum Einen können wir uns auf Überlieferungen verlassen, wobei wir annehmen, die Darstellung entspräche zumindest weitgehend der Wahrheit und auch das Datum sei korrekt auf unsere Zeitrechnung umgerechnet. Zum Anderen lassen sich Artefakte und Ereignisse in vielen Fällen mit naturwissenschaftlichen Verfahren datieren. Aber auch die beruhen auf Grundannahmen. Messungen können ungenauer sein, als es die Fehlerabschätzung vermuten lässt. Schließlich besteht die Gefahr von Zirkelschlüssen, wenn unbeabsichtigt ein erwartetes Ergebnis die Untersuchung beeinflusst.

      Eine die reale Welt betreffende Aussage oder Hypothese unmittelbar als wahr zu beweisen, ist prinzipiell nicht möglich. Das Gegenteil schon eher – sofern Einigkeit über die Prüfkriterien besteht. Deshalb besteht eine Kernforderung der modernen Wissenschaftstheorie in der prinzipiell möglichen Falsifizierbarkeit einer Aussage, d.h. anhand von experimentellen oder empirischen Befunden müsste es möglich sein, sie ggf. zu widerlegen. Leider lassen sich irrige Schlüsse aus der Beobachtung unserer Welt jedoch nicht streng widerlegen, da praktisch jede Vermutung durch zusätzliche Hypothesen als irgendwie doch möglich dargestellt werden kann. Nach Karl Popper1 ist deshalb die 'konventionalistische Wendung', d.h. die Immunisierung eines widersprüchlichen Befundes durch Ad hoc-Hypothesen ausdrücklich verboten.

      Der Philosoph Imre Lakatos modifizierte allerdings Poppers Methode.2 Theorien müssen bei ihm nicht durch bessere ersetzt werden, wenn sie falsifiziert wurden, sondern sie dürfen unter gewissen Bedingungen mit einem Schutzgürtel aus Ad hoc-Hypothesen versehen werden. Dieser muss dazu dienen, bewusste oder auch unbewusste Grundüberzeugungen im Kern der Theorie zu schützen, die ein so genanntes Forschungsprogramm oder Paradigma bilden. Die Grundüberzeugungen, die den Kern eines Forschungsprogramms ausmachen, können und sollen nach Lakatos erst dann aufgegeben werden, wenn das Forschungsprogramm sich degenerativ entwickelt und durch ein besseres Forschungsprogramm ersetzt werden kann. Die Auffassung, dass Theorien sogleich aufgegeben werden müssten, sobald sie von experimentellen oder empirischen Resultaten widerlegt werden, verwarf Imre Lakatos als „naiven Falsifikationismus”.

      Werden solche Überlegungen der Situation des forschenden Wissenschaftlers gerecht, oder sind etwa auch sie naiv? Wissenschaftliche Motivation gilt vorrangig der Entdeckung bislang unbekannter Zusammenhänge, deren Einordnung in das große Theoriegebäude gern den weniger kreativen Fachkollegen überlassen wird. Einen Widerspruch zwischen Beobachtung und Theorie wird man zunächst einmal als Entdeckung von etwas Neuem, bis dahin nicht Beobachtetem sehen – als Erfolg der Arbeit des Forschers. In diesem Sinne wird jener nach einer erklärenden Hypothese suchen. Der Gedanke, dass er zum Schutz der allgemein anerkannten Theorie nun einer Ad hoc-Hypothese bedürfe, oder dass seine Erklärung des Beobachteten als eine solche angesehen werden könnte, dürfte den meisten Forschern wesensfremd sein und auch ihrem Sinn für wissenschaftliche Redlichkeit widersprechen.

      Auf diese Weise kann es geschehen (und die Chronologie, deren Kern die angenommene Stimmigkeit der Jahreszählung bildet, ist hier das beste Beispiel), dass eine ganze Reihe von unabhängigen Befunden, die dem Paradigma eigentlich widersprechen, als unabhängige Entdeckungen anerkannt werden – ohne dass irgendjemand auf die Idee käme, 'das Forschungsprogramm entwickle sich degenerativ'. Woran wäre dies denn überhaupt zu erkennen? Solange ein Paradigma akzeptiert ist, ist es nicht 'degeneriert'. Wird es von einem Großteil der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht mehr anerkannt, so wird man es schnellstens ersetzen. Werden jedoch mehrere Ad hoc-Hypothesen oder ihnen gleichwertige Erklärungen akzeptiert, so lässt sich der Wahrheitsgehalt eines Paradigmas nicht mehr bewerten. In diesem Falle verbleiben dem Wissenschaftler letztlich nur Aussagen unter Bezug auf den Erfahrungsschatz der Menschheit. Letzterer umfasst mit der kausalen Logik insbesondere das Wissen um den gerichteten, stetigen Verlauf der Zeit, sowie die Gesetze der Wahrscheinlichkeit.

      Aussagen zur Chronologie müssen sich also ohne Zusatzannahmen

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