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oder wie sie selber sind, aber die Jugend will nur allzu deutlich werden, was sie will“ (ebd.).

      Diese These der jugendlichen Rebellion gegen die Eltern (Väter) sei nach Meinung von Andresen und Klönne stark zu relativieren bzw. modifiziert und widerlegt (vgl. Klönne, 2000, S. 47, vgl. Andresen, 2003, S. 118). Denn, wie oben schon ausgeführt wurde, die Jugendlichen bzw. jungen Männer übernahmen die elterlichen Wertehaltungen und deren Kritik an der Zivilisation (Industrialisierung und Verstädterung), was sich praktisch in ihrem zeitweiligen Auszug aus den Zentren des gesellschaftlichen Lebens (Städten) äußerte – dem gemeinsamen Wandern der zunächst männlichen Jugendlichen ohne Aufsicht von Schule bzw. Eltern (vgl. Klönne, 2000, S. 47). Durch die Identifizierung mit den dabei erfahrenen Werten eines einfachen und natürlichen Lebens in der „freien Natur“, so Klönne, glaubten die Wandervögel und nach ihnen alle anderen Gruppen der Jugendbewegung, einen alternativen Entwurf oder ein Gegengewicht zur bestehenden (sozialen) Ordnung entdeckt zu haben (vgl. 1996, S. 249 f). Dies spiegelt sich auch in den folgenden Worten Frobenius’ zum Phänomen „Wandervogel“ wider:

      Der Wandervogel ist ein Zeitphänomen. Denn er entsteht in der Zeit einer überreifen Kultur aus der Auflehnung gegen die Mechanisierungen des Lebens. Er ist der Vorbote großer Umwälzungen. (…) Der Wandervogel ist gleichzeitig ein Menschheitsphänomen. Denn er bringt das uralte Recht der Jugend auf Gemeinschaftsbildung, auf ein Eigenleben wieder zur Geltung (…) (und bildet ein, C.K.) Gegengewicht gegen die allgemeine Mechanei. (…) (Der Wandervogel ist) ein urdeutsches Phänomen. (…) (Denn er, C.K.) beruht auf dem urdeutschen Wandertriebe, der seit Jahrhunderten im Volke lebendig ist. (1927, S. 45)

      Stattdessen wird die Jugendbewegung in der modernen Forschungsliteratur u. a. von Klönne nicht nur als soziale, sondern auch als eine Fluchtbewegung gedeutet, nämlich vor der angstverursachenden Moderne in die Arme einer „pädagogischen Provinz“ (vgl. 2000, S. 48) bzw. pädagogischen Schonraum für die Jugend (vgl. Dudek, 1991, S. 64).

      Als erster offizieller Ansatz für den Auszug aus den Zentren des gesellschaftlichen Lebens und damit als Geburtsstunde der Jugendbewegung gilt der „Wandervogel – Ausschuß für Schülerfahrten(AfS), begründet am 4. November 1901 von jüngeren und älteren Mitbewohnern, u. a. von dem Studenten Karl Fischer in Steglitz bei Berlin (vgl. Giesecke, 1981, S. 18). Das Ziel dieser außerschulischen Organisation für Schüler beschreibt ein Lehrer am Steglitzer Gymnasium und späterer Wandervogel Prof. Dr. Ludwig Gurlitt20 wie folgt:

      In der Jugend die Wanderlust zu pflegen, die Mußestunden durch gemeinsame Ausflüge nutzbringend und erfreulich auszufüllen, den Sinn für die Natur zu wecken, zur Kenntnis unserer deutschen Heimat anzuleiten, den Willen und die Selbständigkeit der Wanderer zu stählen, kameradschaftlichen Geist zu pflegen, allen den Schädigungen des Leibes und der Seele entgegenzuwirken, die zumal in und um unseren Großstädten die Jugend bedrohen, als da sind: Stubenhockerei und Müßiggang, die Gefahren des Alkohols und des Nikotins – um von Schlimmerem ganz zu schweigen. (ebd., S. 18)

      Die ersten Wandergruppen des AfS, die in abenteuerlicher Aufmachung mit „Schlapphut, Rucksack und Gitarre“ (Frobenius, 1927, S. 20) im Morgengrauen oder am frühen Abend aus den Städten hinauswanderten, waren reine Jungengruppen, bestehend aus Gymnasiasten, die der Bürgerschicht entstammten (vgl. Aufmuth, 1979, S. 236, 242 ff), woraus sich auch der Name der bürgerlichen Jugendbewegung ableiten läßt. Jene Gruppen wurden von nur unwesentlich älteren Schülern, Studenten oder Lehrern geführt. Man bezeichnete diese als Führer, (Bacchant), da sie in jenen Gruppen immer eine zentrale Rolle spielten und es von ihren Fähigkeiten abhing, was in den Gruppen lief. Damit war ihre Funktion nicht ausschließlich auf organisatorische Aufgaben beschränkt (vgl. Andresen, 2003, S. 81). In Anlehnung an das Konzept der mittelalterlichen Scholaren (fahrenden Schüler) erschloß sich den Jugendlichen auf ihren Fahrten in Wäldern und Wiesen nahe der großen Städte ein Leben voller Abenteuer. Hier entwickelte sich jener Lebensstil, der für den Wandervogel und ebenso für die Gruppen der Bündischen Jugend in der Weimarer Republik eigentümlich bleiben sollte: Gemeinsames Wandern und Singen, Übernachten unter freiem Himmel, Kochen am offenem Feuer. Eingebunden in neue Naturerlebnisse, war das bestimmende Moment des hier gefundenen Lebensgefühls das Erlebnis der Gemeinschaft, der „Verschworenheit“ der Gruppe oder des Bundes21 (vgl. Klönne, 1996, S. 250 f). Damit wurde ein Leitmotiv jugendbewegter Kultur vorgegeben. Die Gestimmtheit des Gefühls oder, wie es Frobenius nennt, „Gemütstiefe“ (1927, S. 23), reichte über unterschiedliche Anschauungen hinweg und vermittelte den Zusammenhalt von Bund und Gruppe, das „Gemeinschaftserlebnis“ (vgl. Schröder, 1996, S. 8, 59 ff).

      Bevor jedoch die ersten Mädchen aktiv an den Fahrten (1905) des sich weiter ausbreitenden Wandervogels der Jungen und Männer beteiligen konnten, genossen diese ein paar Jahre ihres wildromantischen „Scholarenleben“ unter sich. Schon kurze Zeit nach der Begründung des AfS begann dessen verhältnismäßig schnelle Ausbreitung. Im Zeitraum von 1901 - 1905 bildeten sich im AfS sechs weitere Ortsgruppen (vgl. Köhler, 1987c, S. 134). Waren an den ersten Wanderungen 1901 ca. 30 Teilnehmer unter Führung Fischers unterwegs, wurden 1903 bereits Fahrten mit 250 Teilnehmern unternommen (vgl. Köhler, 1987a, S. 73).

      Über den Stil des Wanderns kam es in diesem Zeitraum zu ersten Spannungen zwischen diversen Führern der Scholaren im ersten Wandervogel. Weitere Auseinandersetzungen folgten, woraufhin am 29. 06. 1904 der AfS aufgelöst und der „Altwandervogel(AWV) von Karl Fischer begründet wurde (vgl. Malzacher/​Daenschel, 1993, S. 19). Im gleichen Atemzug entstand der Steglitzer Wandervogel e. V. (1904), in dem die Kontrahenten Fischers den AfS nach ihren Vorstellungen in Steglitz fortführten. Trotz dieser Spannungen gewann der Wandervogel, sprich die deutsche Jugendbewegung, immer mehr Fürsprecher und Anhänger22, auch in einem Teil der Gymnasiallehrerschaft (vgl. Frobenius, 1927, S. 60).

      Im Gegensatz zur männlichen Jugendbewegung, die im Laufe ihrer Entwicklung immer mehr Fürsprecher und auch Mitstreiter gefunden hatte, konnte nach Klönne die entstehende Wander- und Jugendbewegung der Mädchen nur in Ausnahmefällen mit derartiger Unterstützung rechnen (vgl. 1996, S. 251). Hindernisse für ihre Beteiligung an der Jugendbewegung waren zum einen, daß das jugendbewegte Milieu männlich besetzt gehalten war, wie es oben schon angeführt wurde, und zum anderen die damaligen Moralvorstellungen und Weiblichkeitskonstruktionen. Darauf möchte ich im folgenden Abschnitt zu den weiblichen Lebensperspektiven eingehen. Es ist davon auszugehen, daß das hier zu erörternde Geschlechterverhältnis bzw. die hier zu erörternden Weiblichkeitsbilder besonders für die Studien zur Zeit der deutschen Jugendbewegung und im Nationalsozialismus in überspitzter Form prägend sein sollten, bedingt durch die zeitliche Nähe jener Untersuchungen als auch den damaligen Wissens- und Forschungsstand. Dagegen wurden in der weiteren Forschungsgeschichte nach 1945 das Geschlechterverhältnis und die Weiblichkeitsvorstellungen eher skeptisch betrachtet und sollten vor allem in den Untersuchungen im Bereich der Geschlechterforschung ab den achtziger Jahren durchaus kritisch analysiert werden.

      Hatten vor der Industrialisierung Frauen und Mädchen durch ihre in der Familie geleistete Arbeit in der Gesellschaft „etwas zu sagen“ – obwohl sie nicht wirklich rechtliche und politische Entscheidungsfreiheiten besaßen und unter der „Gewalt des Hausvaters“ standen –, so ging ihnen durch die mit den Umwälzungsprozessen verbundene Auflösung der Familienökonomie und durch die zunehmende Bedeutung des wirtschaftlichen Marktes ihre gesellschaftliche Anerkennung verloren. Ihre Arbeit wurde nun nicht mehr als „wahre“ Arbeit anerkannt, und aufgrund der Kritik des Bürgertums an der Moderne wurde die Familie zu dem Bereich des persönlichen Glücks stilisiert. In diesem Zusammenhang wurde der Handlungsraum, „Verhaltenskanon“ (Klönne, 1990, S. 59 f), der Mädchen und Frauen intensiver

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