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den einengenden, konventionellen Autoritäten und der mechanischen Großstadtkultur) (vgl. Schnabel, 2003, S. 37).

      Abzugrenzen ist der Begriff der sozialen Bewegung, und damit auch die Jugendbewegung, von Organisationen, wie beispielsweise einzelnen Vereinen (AfS), da jene Bewegung mehrere solcher Vereinigungen beinhaltete (Jungwandervogel, Akademische Freischar usw.) und dennoch geschlossen auf dem Meißnerfest zusammen auftrat (vgl. 2.2), als auch vom kollektiven Verhalten, welches ausschließlich auf die Verfolgung individueller, nicht aber gemeinsamer Ziele ausgerichtet ist (vgl. Schnabel, 2003, S. 35 f). Auch wenn sich in der späteren Bündischen Jugend eindeutige politische Tendenzen in der Jugendbewegung breit machten (vgl. 2.2), kann nicht von einer politischen Mobilisierung, wie z. B. Parteien, gesprochen werden. Felix Raabe zeigte für die Bündische Jugend eine mehr oder weniger eindeutige Ablehnung von Parteien, wie der NSDAP, in verschiedenen Gruppen auf (vgl. 1961, S. 108). Außerdem ist die Bündische Jugend trotz des nicht unerheblichen Umfangs an „Schnittstellen“ mit dem Gedankengut des Nationalsozialismus (vgl. Klönne, A., 1987, S. 210) dennoch in ihrem politischen Denken sehr mannigfaltig gewesen ist. Sie besaß keine einheitliche politische Idee oder gar politisches Programm (vgl. Raabe, 1961, S. 198), die Offe als wesentliches Merkmal von Parteien nennt (vgl. 2003, S. 430).

      Die Entstehung sozialer „Bewegungen“, wie der Jugendbewegung, sind nach Raschke zumeist Reaktionen auf Situationen, die als Krise/​-n erlebt wurden (vgl. u. a. 1988, S. 11 ff). Was also war für wen kritisch geworden?

      “Als die Geschichte der Jugendbewegung ihren Anfang nahm, ging das vergangene Jahrhundert gerade seinem Ende entgegen“ (Malzacher/​Daenschel, 1993, S. 10). In dieser Zeit (Ende bzw. zweite Hälfte des 19. Jh.) vollzog sich im wilhelminischen Deutschland ein enormer sozioökonomischer Wandel, der seine Auswirkungen in der Gesellschaft und damit auch im Generationenverhältnis hinterlassen sollte. Diese Entwicklung gilt es im folgenden näher zu betrachten, da jene als wesentlicher Faktor zur Entstehung der deutschen Jugendbewegung angesehen werden kann.

      Ende bzw. in der zweiten Hälfte des 19. Jh. entwickelte sich Deutschland von einem Agrarstaat zu einem Industriestaat, in dem Fortschritt und Technik die Zauberworte (nicht nur) des Bürgertums waren (vgl. Engelhardt, 1927, S. 10) – ein System der „Erwerbsgier“ und des „Mammonismus“ (Lütkens, 1925, S. 34 f) entstand. Die Menschen, vor allem aus den ländlichen Gegenden und dem proletarischen Milieu, zog es auf der Suche nach neuer Arbeit massenhaft in die Städte, was heute allgemein unter dem Begriff „Landflucht“ (Musall, 1987, S. 29) bekannt ist. Dadurch zerfiel die traditionelle Gemeinschaft, in der die Menschen dieser Zeit zusammengelebt hatten. Gleichzeitig wuchsen die Städte rapide an; Lütkens spricht von „Verstädterung“ (1925, S. 20) und zeigte deren Auswirkung in der Gesellschaftsstruktur, besonders auf das städtische Bürgertum, das seine „tragende Rolle“ (Status), welche es bisher in den Städten inne hatte, unfreiwillig einbüßen mußte.

      Trotz dieser Veränderungen hingen die bürgerlichen Schichten noch immer an den Wertvorstellungen einer Gesellschaft mit einem „überschaubaren und stabilen sozialen Zusammenhang“, natürlich zu ihren Gunsten in hierarchischer oder „ständischer Tradition“. Auf der Suche nach Erklärungen für die Modernisierungstendenzen entwickelten sie einen „Kulturpessimismus und Zivilisationshass“. Rettung vor dieser gefährlichen „Moderne“ sahen jene in den „alten Werten“ (Klönne, 1990, S. 82 f) – klassisch-humanistische Bildung (Latein, Philosophie, usw.), hierarchisierte Gesellschaftsstruktur, etc. –, die ihnen bis dahin ihre Existenz gesichert hatten. Diese kritische Einstellung hätten jene Älteren aufgrund ihrer Verhaftung in einem bestimmten gesellschaftlichen Status nicht lebenspraktisch angewandt, sondern stattdessen die gesellschaftlichen Entwicklungen hingenommen (vgl. Klönne, 2000, S. 47). Diese Haltung bzw. diese „nüchterne Welt der Väter“ hätten die „jungen Menschen“ nicht mehr verstehen können. Diese mußten sie sogar zum Haß bringen, der letztendlich zu einem Generationenkonflikt führte, oder wie Engelhardt es formuliert: „Das Problem Vater und Sohn schlug seine Wellen“ (1927, S. 11).

      Zugleich begann sich „Jugend“ in jenem Zeitraum als eigenständige Altersgruppe und Entwicklungs- bzw. Lebensphase zwischen Kindheit (Kriterium Schulentlassung) und Erwachsenenstatus (Kriterium Wehrdienst oder Eheschließung) herauszubilden (vgl. u. a. Reulecke, 1986, S. 21). Hier wird schon die eher männlich geprägte Definition von Jugend dieser Zeit deutlich, obwohl Reese darauf verweist, daß das Konstrukt Jugend um 1900 auf der Vorstellung eines Lebens gründete, das für alle Menschen (Geschlechter) formal gleich war (vgl. 1991, S. 8). Die männliche Betonung des Begriffs Jugend mag damit verbunden gewesen sein, daß dieser Terminus auf den Ausdruck Jüngling zurückging – ein in der Schule auf das Leben vorzubereitender Mann (vgl. Andresen, 2003, S. 71).14 In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, daß bei meiner Analyse der Frage, wie sich die historische Forschung während der jugendbewegten Zeit mit dem Thema Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung auseinandergesetzt hat, der Schwerpunkt deutlich auf den männlichen Jugendlichen liegen wird. Bei den Studien nach 1945 und bei den ab den achtziger Jahren entstandenen Untersuchungen sollte dieser jedoch deutlich abnehmen.

      Jene Herausbildung von Jugend als eigene Entwicklungsphase mag auch in der damaligen umfangreichen publizistischen und auch wissenschaftlichen Diskussion15 über Jugendliche und ihre Probleme begründet liegen, „mit der Tendenz, Jugend nun endlich nicht mehr als Noch-nicht-Erwachsene zu behandeln, sondern als Potential eigentümlicher, noch unverbrauchter und unverfälschter Chancen“ (Giesecke, 1981, S. 14). Verbunden mit dem eben Gesagten richtete sich die Hoffnung vor allem des Bildungsbürgertums – die Beamtenschaft und die akademischen freien Berufe, wie Professoren und Gymnasiallehrer – auf die Jugend, von der es sich eine „Erneuerung“ ihrer „alten Werte“ (Klönne, 1990, S. 83 f) ersehnte. Es entstand eine Art „Mythos Jugend“ (vgl. Andresen, 2003, S. 73).

      Ausgehend von der Vermutung Andresens, daß nach Annahmen der neueren sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung die Jugendlichen auch selbst an der Konstruktion von Jugend und ihrem Leben beteiligt sind, wobei das, was sie als eigenes Leben definieren, im weitesten Sinne den Diskurs der Eltern widerspiegelt (vgl. ebd., S. 64), hätten sich die Jugendlichen und später die Jugendbewegten selbst als „Träger eines „anderen“ Lebens und einer „neuen“ Gesellschaft“ (Klönne, 2000, S. 47) unter Rückgriff auf die alten Werte verstanden und Jugend damit selbst konstruiert (vgl. Andresen, 2003, S. 70). Es ist zu erwarten, daß in den Untersuchungen aus dem Bereich der Geschlechterforschung, die sich mit Geschlechterkonstruktionen beschäftigt, vor allem die hier erwähnten Gedanken bzw. Selbst- und Fremdthematisierungen – die Jugend als Träger eines anderen Lebens und Bewahrer der alten Werte – genauer erörtert und eher kritisch in die Analyse zur Konstruktion weiblicher Jugend in der deutschen Jugendbewegung einbezogen werden.

      Dessen ungeachtet wurde insbesondere in den damaligen Schulen, geprägt von der wilhelminischen Ära16, die Eigenart der Jugend und deren Potential der Lebensform bzw. den Vorstellungen der Eltern untergeordnet (vgl. Frobenius, 1927, S. 31). Dazu gehörte auch die strenge Sexualmoral mit der Forderung nach weitestgehender sexueller Abstinenz bis zur Ehe (vgl. u. a. Linse, 1987, S. 248 ff) – Keuschheitsgebot –, wobei darin, wie im folgenden Kapitel deutlich wird, enorme Geschlechterdifferenz17 bestand. Daneben standen die Jugendlichen unter der „Fuchtel“ ihrer Eltern und der Schule und hatten diesen Gehorsam, Unterordnung und Leistung entgegenzubringen und zu zeigen (vgl. Malzacher/​Daenschel, 1993, S. 11). Jugend war damit nicht mehr, als ein verlängerter Status der Abhängigkeit (vgl. Andresen, 2003, S. 71), vor allem von der „autoritär-patriarchalischen Vaterfigur“ (Klönne, 2000, S. 48).

      Vor diesem Hintergrund entstand die deutsche Jugendbewegung. Besonders im ersten Grundlagenwerk zur Geschichte der deutschen

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