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heißt a-letheia (wörtlich: das Unverborgene). Das Verborgene, das oft unangenehm ist, tritt langsam ans Licht. Es kommt an die Oberfläche, kann angeschaut und erlöst werden. Auch in ihm stecken kreative Kräfte. Der Mensch kann sich diesem oft schmerzhaften und tränenreichen Prozess der Bewusstwerdung stellen und ihm zustimmen. Dies ist zum einen notwendig, damit das Unbewusste nicht zerstörerisch im Menschen wirkt und womöglich zu Depressionen führt. Zum anderen schlummert auch im Verdrängten und in den Schattenseiten noch kreatives Potenzial. Wenn das ans Licht kommt, kann mehr Frucht daraus werden. Der Weg der „Wahrheitung“ und der Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten, die nicht gerne angeschaut werden und vielleicht Erschrecken auslösen, ist oft ein schmerzlicher und lebenslanger Prozess. Er muss oft mehr erlitten werden, als dass er gewollt ist. Er wird dem Menschen quasi von innen her „aufgedrängt“. Aber es gibt eine Zusage, wenn man sich ihm stellt: „Die Wahrheit wird euch freimachen“ (Joh 8,32) und: „Ihr werdet mehr Frucht bringen“. (Joh 15,2)

       Du sollst aus fünf Talenten zehn machen

      Der Begriff „Talent“ kann als Geldstück verstanden werden oder als Begabung. Hier geht es zunächst um die Begabung. Sie hat etwas zu tun mit Gabe: Jedem Menschen ist etwas mitgegeben. Manches ist in den Genen verankert, manches in den epigenetischen Verschaltungen, die auch mit dem Lebensstil des Menschen zu tun haben.40 Vieles wird gefördert durch eine gute Erziehung und Bildung, einiges leider auch blockiert und zerstört durch schlechte Familienverhältnisse. Die Begabung, die zum Teil erblich ist, muss gefördert werden, sonst versiegt sie und kommt nicht zur Entfaltung. Es ist immer beides: Anlage und Förderung, Begabung und Arbeit. Mozart hatte ein großes musikalisches Talent. Wenn er nicht geübt und mit seinem Vater daran gearbeitet hätte, hätte sich das Talent nicht entfalten können. Dies ist ein Auftrag an den Begabten, ebenso an die Eltern und an den Staat, Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die der Entfaltung des Angelegten dienen.

      Allerdings darf sich die Verwirklichung der Anlagen nicht nur auf die Verbesserung der intellektuellen Fähigkeiten oder des Sachverstandes beziehen, sondern muss auch die Ausbildung des ethischen Bewusstseins umfassen. Der Mensch sollte auf allen Ebenen gebildet werden: auf der Sachebene, auf der ethischen, wie man gut und richtig handelt, und auf der spirituellen, wie man seine Innenwelt am besten verstehen kann. Anders ausgedrückt: Er sollte auf der Vernunftebene, der Verstandesebene und auf der Herzensebene durchgebildet werden. Oder wie Dostojewski sinngemäß sagte: Lieben heißt, aus dem anderen das herauslieben, was Gott als Bild in ihn hineingelegt hat. Das ist Bildung im umfassenden Sinn. Wenn jemand nur auf der Sachebene gut ausgebildet ist, kann er sein Wissen nicht allein für gute Zwecke nutzen, sondern ebenso Banken überfallen, Kriege planen oder Cyberattacken durchführen. Also muss die Frage lauten, wozu man die Talente nutzt. Das Christentum ist hier ganz klar: Die Talentvermehrung sollte immer im Dienst am Menschen stehen, am anderen und an sich selbst. Daher geht es bei der Talentvermehrung immer auch um die Einübung ethischer Standards: um die Aneignung der Tugenden von Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß sowie der christlichen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe. Ebenso sind ethische Vorstellungen, die durch Immanuel Kant mit dem Begriff Menschenwürde belegt wurden, von großer Bedeutung. Dieser Begriff besagt, dass jeder Mensch um seiner selbst willen geachtet werden soll. Das ist die philosophische Zusammenfassung dessen, was in der griechischen Philosophie mit der Tugend der Gerechtigkeit angedacht war, dass man jedem Menschen gerecht werden soll, im Judentum mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen und im Christentum mit der Aussage des Paulus, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Letztlich ist der Begriff der Menschenwürde die philosophische Durchreflexion der Vorstellung von der Nächstenliebe und in weiterer Konsequenz der Feindesliebe im Christentum. Denn auch der Feind soll um seiner selbst willen geachtet werden. Er darf zum Beispiel nicht gefoltert werden, weil dies der Menschenwürde widerspricht. Aus dem Begriff der Menschenwürde sind die Menschenrechte hervorgegangen.

      Das Neue Testament fasst die Talentvermehrung im Kontext der Ethik sehr klar zusammen: Auf das Gleichnis von der Talentvermehrung folgt das Gleichnis vom Weltgericht. Es heißt dort: „Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt 25, 31-36).

      Auf die Rückfragen der Menschen, wann sie den Menschensohn arm, krank und obdachlos gesehen haben, antwortet er: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 40). Hier ist die Zielrichtung des Handelns und der Verwirklichung der Talente klar aufgezeigt: Der Mensch soll seine Talente auch im Dienst am Armen, Hungrigen, Durstigen, Fremden, Obdachlosen, Kranken und Gefangenen vermehren. Und umgekehrt: „Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und diese werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben“ (Mt 25, 45-46).

      Nimmt man das Talent als Geldstück und Währung, tritt Ähnliches zutage. Das Menschenbild des Christentums zeigt den Menschen als je unterschiedlich: Jeder hat unterschiedliche Talente, die er nutzen soll. Der eine hat mehr künstlerische Talente, der andere handwerkliche, der Dritte unternehmerische, der Vierte wissenschaftliche. Jeder soll im Orchester der Menschen sein eigenes, für ihn stimmiges Instrument spielen. Zweifelsohne darf der Mensch Geld verdienen und unternehmerisch tätig sein. Allerdings sollte das Geld letztlich immer wieder dem Menschen dienen und nicht sich selbst. Wenn Geld nur noch mit Geld verdient wird und nur der eigenen Geldvermehrung dient, kann es wie ein Krebsgeschwür entarten, die Reichen reicher und die Armen ärmer machen und so letztlich die Gesellschaft und die Wirtschaft selbst zerstören.

      Was das Eigentum angeht, so sagte schon Thomas von Aquin, man solle jedem Menschen Eigentum geben, dann würde er sich auch darum kümmern. Wenn – wie im Kommunismus – theoretisch allen alles gehört, besteht oft keine Bereitschaft, sich um die Dinge gebührend zu kümmern. Die sozialistische und kommunistische Planwirtschaft ist nicht zuletzt daran gescheitert, vor allem aber am falschen Menschenbild, das verkennt, dass eben nicht alle Menschen gleich sind. Von ihrer Würde her sind diese zwar gleich, aber sie haben unterschiedliche Talente, Begabungen und Interessen.

      Zusammengefasst: Christlich gesehen darf der Mensch unternehmerisch tätig sein und Geld verdienen, aber er soll dabei die an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen nicht vergessen. Es geht dabei um Tugenden wie Nächstenliebe und Gerechtigkeit. Für eine gelingende Gesellschaft sind diese Tugenden von großer Bedeutung. Auf struktureller Ebene kommt die soziale Marktwirtschaft dieser Forderung recht nahe, dass Menschen in wirtschaftlichen oder anderen Notlagen nicht alleingelassen werden. Ein reiner Kapitalismus, der sich nicht um Arme und Benachteiligte kümmert, ist mit dem Christentum nicht vereinbar. Auf die nicht haltbare Unterstellung, dass man sich zwischen Wirtschaft und Ethik entscheiden müsse (also Wirtschaft nicht ethisch sein könne), ist wohl umgekehrt zu antworten, dass das ethisch Richtige sich auf Dauer auch als das wirtschaftlich Erfolgreiche herausstellen wird.

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