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Aufgegeben – so fühlt sie sich. Die Seele von Frau E. kam nicht nach.

      Was hätten die Verwandten auch tun sollen? Die Entscheidung, sie der Obhut eines Pflegeheimes anzuvertrauen, lag nahe. Die Belastung einer intensiven Betreuung wäre zu Hause zu groß gewesen. Untragbar auch, die Tante sich selbst zu überlassen. Für mich ist nachvollziehbar, dass die Angehörigen das Dilemma auf diese Weise aufgelöst haben.

      Frau E. musste viel zurücklassen: Das kleine Haus, das sie Jahrzehnte lang mit ihrem Mann bewohnte. Die schöne Wohnung mit all den Möbeln und Gegenständen, die das Haus zum Zuhause machten. Den Garten, den sie über alles liebte. Die altbewährte Nachbarschaft. Auch ihre Selbständigkeit, die Freiheit, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, musste sie aufgeben.

      Nun ist sie hier, im Heim. Die Wohnung ist entrümpelt, das Haus verkauft. Teile ihrer Polstergarnitur stehen jetzt wohl in irgendeiner Gartenlaube. Ein Nachbar hatte Interesse daran. Über Speiseservice und Silberbesteck werden sich die Verwandten einig geworden sein. Einige gerahmte Fotos wurden ihr nachgereicht, Erinnerungsfotos von ihren Verwandten. Sie liegen auf der Kommode. Frau E. hat sie abgedeckt mit einer Zeitung. Nur das Foto ihres Verstorbenen Mannes steht auf dem Nachttisch neben der Uhr, weckt Trauer und Sehnsucht.

      Aufgegeben. Dieses Wort wandert ständig durch ihre Gedanken. Aufgegeben hat sie sich selbst dennoch nicht. Die körperlichen Schmerzen haben sich auf ein erträgliches Maß reduziert. Über ihre seelischen Schmerzen kann sie mit der einen oder anderen Heimbewohnerin reden. Frau E. fühlt sich noch fit. Als gelernte Schneiderin kann sie Hosen kürzen, Röcke enger machen, Kragen wenden, Ärmel einfassen. Sie kann Hemden bügeln, Knöpfe annähen, Strümpfe stopfen, Topflappen häkeln, Socken stricken und vieles mehr. Inzwischen steht ihre Nähmaschine betriebsbereit im Keller des Heimes. Frau E. sehnt nun den Tag herbei, an dem sie für andere etwas nähen darf. Sie sagt: „Wenn ich noch gebraucht werde, eine Aufgabe habe, dann weiß ich, dass ich noch jemand bin.“ Nach und nach bekommt das Wort „Aufgabe“ in ihren Ohren einen anderen Klang.

       Wo bin ich hier eigentlich?

      Gedanken zum Lebensort Altenheim

      „Wo bin ich hier eigentlich?“ Mit dieser Frage konfrontierte mich eine neu eingezogene und offensichtlich etwas verwirrte Heimbewohnerin. Ich war schon drauf und dran, die nahe liegende Antwort zu geben. Aber irgendetwas hat mich daran gehindert, sie mit dem Begriff „Altenheim!“ zu desillusionieren.

      Mir lagen dann die Worte auf der Zunge, inspiriert vom schlossähnlichen Ambiente des Hauses: „Wir sind hier in einem wunderschönen Schloss. Sie dürfen sich hier fühlen wie eine Königin. Alles ist schön zurechtgemacht für Sie und die anderen Könige und Prinzessinnen. Die Damen in den hellblauen Kitteln stehen Ihnen zu Diensten.“ Wäre das gut gewesen so zu antworten? Oder hätte es die neue Bewohnerin noch mehr verwirrt? Vielleicht wäre ihr auch vor Freude das Herz aufgegangen und sie hätte ihre eigene Würde spüren können. Vielleicht hätte sie mein verrückter Einfall in eine Prinzessin verzaubert, und sie hätte sich stolz und aufrecht in ihrem Sessel positioniert. Wie auch immer. Ich habe die Verzauberung nicht riskiert. Mit Sicherheit wäre die Schönfärberei aufgeflogen und hätten womöglich einer schmerzhaften Ernüchterung Platz gemacht.

      Was wäre die richtige Antwort auf die oben genannte Frage? Verlangte Frau K. wirklich nach einer genauen Ortsbestimmung? Oder war sie vielmehr auf Halt, Trost und Zuwendung aus, auf Worte oder Gesten, die ihr helfen könnten, die Unsicherheit zu überwinden? War ihr Fragen nicht Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach Geborgenheit? Viele Heimbewohner sehnen sich nach einem sicheren Ort, wo sie sich gut aufgehoben und geborgen fühlen können. Nicht allen gelingt es heimisch zu werden.

      Irgendwie stand die Frage noch im Raum: „Wo bin ich hier eigentlich?“ Vielleicht hatte Frau K. ihre Worte auch mehrfach wiederholt. Jedenfalls hat ein kleines Mädchen, das mit seiner Mutter bei einer anderen Bewohnerin zu Besuch war, die Frage aufgeschnappt. Das Mädchen sagte zu seiner Uroma: „Oma, du bist im Kindergarten für alte Leute.“

      Kindergarten für alte Leute! Das trifft es doch. Das klingt lustig, zumindest nicht so ernst wie Altenheim und auch nicht so realitätsfern wie Königsschloss.

      So geht es hier ja auch manchmal zu, wie im Kindergarten, wenn Spiele gemacht, Tiernamen erraten, Luftballons aufgeblasen werden, wenn fröhlich gesungen wird.

      Kindergarten. Ich nehme das Wort auseinander: Kinder. Kinder sind wir alle. Das trifft im genealogischen Sinn auf jeden Erdenbürger zu. Das Heim ist also ein Ort, wo Menschen Kind sein dürfen, hilflos, naiv, zuwendungsbedürftig.

      Und der Begriff Garten weckt bei mir viele, überwiegend positive Assoziationen. Ich sehe grüne Rasenflächen mit Gänseblümchen übersät, Rosenbeete, Bäume, Sträucher. Mir gefällt die Vorstellung von einem Garten, zumindest als visionäre Begrifflichkeit. In einem Garten kann etwas aufblühen, gedeihen und wachsen. Der Garten ist ein Wohlfühlort. Da lässt sich das Leben genießen. Da kann geerntet, da kann etwas eingebracht werden. Lebensernte. Da kann man sich an den Lebensfrüchten freuen und stolz sein. Der Garten steht für Arbeit und Ausruhen, für Gebrauchtwerden und Entspannung. Selbst die religiösen Hoffnungen und Vorstellungen vom Paradies beschreiben nichts anderes als einen prächtigen „Wonnegarten“, so die Übersetzung des altpersischen Wortes Paradies.

      Meine Fantasie geht mit mir durch. Ich entwickle schon Ideen, dieses Heim „gärtnerisch“ umzugestalten: Überall Blumen, lauschige Winkel, kleine Sitzgruppen in gemütlichen Lauben. Vogelgezwitscher per CD-Einspielung statt Schlager und Volksmusik. Ein Zimmerbrunnen plätschert fröhlich vor sich hin. Frischer Fliederduft breitet sich aus. Alte, vertraute Gerätschaften hängen dekorativ an den Wänden. Das Gebäck zum Kaffee kommt aus dem Picknickkorb. Klingt das nicht paradiesisch? Noch fantastischer wäre es, den Innerbereich mit einem wunderschön angelegten und geschützten Garten im Umfeld des Heimes zu verbinden. Da gäbe es Vogelgezwitscher live, den Duft von Blumen und Kräutern, Blätterrauschen, Schattenplätze unter Bäumen, frische Luft. Man könnte aufatmen unter freiem Himmel, Freiheit atmen, das Leben so gut es geht genießen.

      „Wo bin ich hier eigentlich?“ die Frage holt mich gedanklich zurück ins Heim. Aus der Wahrnehmung der Realität erschließt sich die ehrliche Antwort: Wir sind hier in einem Altenheim. Aber die Vorstellung, etwas gestalten zu können, sodass sich alt gewordene Menschen wohl und geborgen fühlen, beflügelt mich. Es muss ja nicht gleich das Paradies sein. Und ich wende mich erst einmal der noch immer etwas verwirrten Dame zu, versuche zu vermitteln, dass sich viele freundliche Menschen liebevoll um sie kümmern werden.

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