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Schamanismus bei den Germanen. Thomas Höffgen
Читать онлайн.Название Schamanismus bei den Germanen
Год выпуска 0
isbn 9783964260000
Автор произведения Thomas Höffgen
Жанр Эзотерика
Издательство Автор
Das Geheimnis der Tiermenschen
Pflanzen der Schamanen (Odins Äcker)
Vorwort
„Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah.“
Goethe: Erinnerung
Fragt man einen modernen Mitteleuropäer, was Schamanismus sei, verweist er sicher auf die indigenen Völker ferner Länder und ihre fremdartigen Kulte. Stellte man dieselbe Frage einem antiken Mitteleuropäer, vielleicht dem Vorfahren jenes modernen, dann würde dieser höchstwahrscheinlich antworten: „Wenn Sie was von unserm weisen Mann und Zauberer erfahren wollen – der wohnt gleich dahinten, in dem kleinen Haus am Waldrand“.
Schamanismus gilt als etwas Exotisches (altgr. exōtikós: „fremdländisch“): Der Begriff ruft Bilder wilder Eingeborener mit Fell und Federtracht hervor, die in den letzten Winkeln dieser Erde vormoderne Geisterrituale ausüben. Man denkt an Medizinmänner und -frauen, die Trommelkulte praktizieren und unterm Totempfahl in Trance fallen. Edle Wilde, die in den Phänomenen der Natur die Zukunft lesen und die Sprache der Tiere sprechen. Ur-Menschen, die am Gürtel ihres Lendenschurzes einen Lederbeutel tragen, in dem sich entheogene Naturdrogen befinden. Und diese Vorstellung ist mitunter vollkommen korrekt.
Doch sie ist nur die halbe Wahrheit, denn der Schamanismus ist – aus europäischer Perspektive – nicht nur ein exotisches, sondern auch ein einheimisches Phänomen: Auch die Europäer haben eine schamanische Tradition, haben schamanische Mythen und schamanische Kulte. Auch die Europäer haben eine schamanische Kulturgeschichte mitsamt Trancetechniken, Trommelritualen und Tierverwandlungen. Sie haben sie nur fast vergessen, verdrängt und sogar verteufelt. Wer denkt schon noch an Schamanismus, wenn er heute einen Weihnachtsbaum aufstellt, in den Mai tanzt, sich zu Karneval verkleidet oder auch nur jemandem „den Daumen drückt“? Modernes magisches Denken und Handeln, das in die Zeit der alten Europäer führt, als noch Wald den Kontinent bedeckte und vorchristliche Waldvölker in heiligen Hainen ihre heidnischen Naturgötter verehrten. Für diese Ur-Einwohner von Europa war der Schamanismus nicht exotisch, sondern genuin, ein fester Teil der täglichen Kultur und religiösen Praxis. Der Schamanismus war nicht fremd, sondern vertraut und ein wesentliches Element der europäischen Existenz und Lebenswirklichkeit. Daher rührt die Faszination, die exotische Kulturen auf uns ausüben, weil ihr Schamanismus uns so sehr an unsere eigene Kultur und Tradition erinnert, unser eigenes Schamanentum, das tief in unserem kulturellen Kollektivgedächtnis, in unserer Erinnerung, immer noch lebendig ist.
Wotan, der germanische Ur-Schamane, mit Zauberstab und Schlapphut, opferte sein Auge, um aus der heiligen Quelle der Erkenntnis zu trinken, die an den Wurzeln des Weltenbaums entspringt. Georg von Rosen, 1886.
Einleitung: Germanischer Schamanismus
In einer rustikalen Gaststube aus dem 19. Jahrhundert, die in dunkel-hölzernem Barock gehalten war, traf ich mich zu einem Abendessen mit dem Hochschullehrer Hasenfratz. Im Schein der Kerze offenbarte ich dem Schweizer Religionshistoriker die Idee, ein Buch zum Thema „Schamanismus bei den Germanen“ zu verfassen. Freilich ein schillerndes Thema. Der emeritierte Professor fand die Idee jedoch „höchst spannend“ und rezitierte mir sogleich den ersten Merseburger Zauberspruch in althochdeutscher Sprache – ich konterte mit dem zweiten. Hasenfratz sah mich scharf mit einem Auge an und sagte: „Natürlich macht ein solches Unterfangen Sinn. Denken Sie nur einmal an den Weltenbaum, den haben die Germanen ebenso wie alle zirkumpolaren schamanischen Kulturen. – Der Weltenbaum“, sagte Hasenfratz, zahlte das Essen und setzte im Hinausgehen seinen Hut auf, „könnte Sie tatsächlich zu den germanischen Schamanen führen“. Der Mann ließ mich verdutzt zurück, widersprachen seine Worte doch der wissenschaftlich etablierten Lehrmeinung, welche diesem Thema tendenziell mit Ablehnung entgegen tritt. Doch er machte mir auch Mut, meine langjährige Privatforschung, die zum Teil zu unorthodoxen Ergebnissen geführt hat, zu diesem kleinen Büchlein auszuarbeiten.
Tatsächlich ist das Thema „Schamanismus bei den Germanen“ bislang nur unzureichend diskutiert worden. Und die wenigen Untersuchungen, die sich damit befassen, sind gekennzeichnet durch eine geradezu hyperkritische Herangehensweise: Da ist von „Spuren“ und „schamanischen Überbleibseln“ die Rede sowie von Motiven, die „seltsam schamanisch“ sind (Eliade). Man spricht von „schamanistischen Zügen in der altisländischen Überlieferung“ (Buchholz) oder „Zügen des Schamanentums in der germanischen Überlieferung“ (Lichtenberger). Wissenschaftlicher Konsens sind nur mehr „Spuren schamanischer Praktiken“, „Formen des Schamanismus“ und „schamanoide“ Züge (Simek).
Doch sind es wirklich lediglich Spuren, Züge und Einzelheiten, die auf einen germanischen Schamanismus schließen lassen? Oder hat man bisher einfach noch nicht mehr als diese Spuren freigelegt und es außerdem versäumt, den Spuren auch ins Feld zu folgen? Erfüllt die Rede von den Einzelheiten