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war es auch, der mir die Welt der Bücher erschlossen hat. Als Kind schenkte er mir bunte Bilderbücher, später Märchenbücher, spannende Jugendbücher, heute sind es Bestseller aus aller Welt.

      Zwischen uns besteht seit all den Jahren ein kleines, intimes Ritual. Nach jedem gelesenen Buch treffen wir uns im Hinterzimmer seines Buchladens, trinken aus bauchigen, himmelblauen Steinguttassen Tee, essen Ingwerkekse und tauschen uns über das gelesene Buch aus.

      Einen Brauch, den ich mir aus meinem Leben nicht mehr wegdenken kann und will.

      Clemens wollte mich am Anfang unserer Beziehung begleiten, doch so sehr ich ihn auch liebe, diese Treffen gehören einzig Konrad und mir.

      Clemens ist seitdem eifersüchtig auf Konrad und wird in seiner ablehnenden Haltung von meinem Vater unterstützt. Es tut mir weh, dass sich ausgerechnet die beiden Menschen, die ich am meisten liebe, nicht verstehen. Obwohl sich Konrad nicht negativ über Clemens äußert, spüre ich, dass er ihn nicht mag. In den wenigen Momenten, in denen sie sich begegnen, geht er höflich mit ihm um, doch ich spüre seine Reserviertheit und sein Misstrauen.

       Kapitel 4

      Ich schreckte aus meinen Gedanken, denn ich wäre beinahe über einen Ast gefallen, der quer über dem Weg lag. Wahrscheinlich hatte ihn der Sturm der vergangenen Nacht abgerissen und hierher geschleudert. Ich musste mich besser auf meinen Lauf konzentrieren. Was auch immer mit Konrad los war, ich würde es später erfahren.

      Nach einer halben Stunde betrat ich wieder meine Wohnung. Rasch ging ich unter die Dusche, dann schlüpfte ich in meine Lieblingsjeans, zog einen roten Baumwollpulli über und wickelte einen blaugemusterten Schal um den Hals. Ein bisschen getönten Puder, Rouge und Wimperntusche. Fertig.

      Ich betrachtete mich im großen Flurspiegel. Eine zierliche Person mit halblanger, schwarzer Ponyfrisur blickte mir zufrieden aus braunen Augen entgegen. Ich setzte meine goldene Brille auf und schenkte meinem Spiegelbild ein mildes Lächeln. Ich war zufrieden mit der Frau, die mir zurücklächelte. Dass ich im Januar meinen fünfunddreißigsten Geburtstag feiern würde, sah man mir nicht an.

      Mit Schwung drehte ich mich vom Spiegel weg und ging in die Küche, um mir ein kleines Frühstück zu machen. Ich stellte eine Schale voller Müsli und einen Becher mit grünem Tee auf meinen Esstisch, zündete eine Kerze an und setzte mich auf die Eckbank.

      Jedes Mal, wenn ich hier sitze, fühle ich mich meiner Mutter sehr nahe. Schon als Kind liebte ich es, mich in der Küche aufzuhalten. Es war so heimelig, meiner Mutter beim Kochen zuzuschauen, oder mit ihr am Tisch zu sitzen und zu warten, bis das herrlich duftende Brot so weit war, aus dem Ofen genommen zu werden.

      Sie trank meistens Kaffee und für mich gab es heißen Kakao mit einem Marmeladenbrötchen. Sie erkundigte sich nach meinem Schulalltag, ließ mich von meinen Erlebnissen berichten und nahm sich meiner großen und kleinen Sorgen an. Als einziges Kind meiner Eltern, genoss ich ihre gesamte Aufmerksamkeit. Sie war Mutter, aber auch ältere Schwester und Freundin für mich.

      Die schönsten und innigsten Stunden jedoch waren für mich unsere gemeinsamen Nachmittage, die wir in ihrem Schreibzimmer verbrachten. Dort erzählte sie mir die spannendsten Geschichten und Märchen, die sie sich ausgedacht hatte. Gemeinsam spannen wir ihre Geschichten weiter, überlegten uns, wie wir die böse Hexe bestrafen könnten, was die dumme Gans erleben müsste, damit sie klüger würde und halfen dem kleinen Jungen Pips, seine echte Mama wiederzufinden. Hatten wir unsere Märchen beendet, eilte meine Mutter an ihren Schreibtisch und schrieb die Geschichten nieder, dazu malte sie kleine, lustige Aquarellbilder.

      Sie war eine gefragte Kinderbuchautorin und ich platzte beinahe jedes Mal vor Stolz, wenn ihr neuestes Buch in den Regalen der Buchläden ausgestellt wurde, denn ein bisschen waren es ja auch meine Geschichten, die mit einem Mal in stolzen, schwarzen Lettern auf weißen Seiten zu lesen waren. Gewidmet waren sie mir. Für meine geliebte Tochter Lexa stand jeweils auf der ersten Seite.

      Ich erinnere mich noch, als sich mein Vater einmal darüber beschwerte, dass ihm keines der Bücher gewidmet sei. Sein Mund lächelte, aber seine Augen blickten kühl.

      An ihr Gesicht, ihren Geruch und andere Eigenheiten kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Mit jedem Jahr löst sich ihr Bild immer mehr im Nebel der Vergangenheit auf. Die wenigen Fotos, die ich anfangs immer wieder betrachtete, halfen mir nicht, sie lebendig zu erhalten. Doch in ihren Märchenbüchern ist sie mir bis heute nahe. Sobald ich eines der Bücher aufschlage, kann ich ihre Stimme wieder hören. Leise, mit einem kleinen Lachen darin.

      Als ich acht Jahre alt war, verschwand sie plötzlich aus meinem Leben. Abgestürzt irgendwo in den Anden. Eine steile Felswand in einem undurchdringlichen Gebiet. Ihr Leichnam wurde nie gefunden.

      Noch heute spüre ich das Entsetzen und die Ohnmacht, die von mir Besitz ergriffen, als mein Vater von dieser unglückseligen Reise allein zurückkam.

      Ein trauriger, gebrochener Witwer, den ich mit meiner kindlichen Trauer und meiner immer größer werdenden Einsamkeit nicht belästigen durfte. Meine Mutter wurde nicht mehr erwähnt und über das Unglück nicht gesprochen. Fragen waren nicht erlaubt.

      Ich weiß bis heute nicht, was damals eigentlich geschehen ist.

      Kurz darauf zog Nadine bei uns ein. Eine Freundin meines Vaters, die eher die Rolle einer älteren Schwester hätte einnehmen können, als die einer Ersatzmutter, zudem konnte sie mit einem kleinen, trauernden Mädchen, wie ich es war, nichts anfangen. Sie genoss es, die große Dame an der Seite meines Vaters zu spielen. Sehr lange dauerte ihre Anwesenheit allerdings nicht.

      Sie war der Beginn einer Reihe immer jünger werdender Tanten. Für mich endete zu diesem Zeitpunkt meine Kindheit und wäre mein Onkel Konrad nicht für mich da gewesen, hätte ich eine einsame, freudlose Zeit erlebt.

      So aber führte mich mein Weg nach der Schule immer zu ihm in die Buchhandlung, wo ich mich in die Kinderecke zurückzog, in den neuesten Büchern schmökerte, um mich mit meinen Buchhelden in zahllose Abenteuer zu stürzen. Am liebsten aber blätterte ich in den Märchenbüchern meiner Mutter. In ihnen war sie mir nahe.

      Den Tanten war mein Wegbleiben sehr recht, doch meinem Vater waren meine Besuche bei Konrad ein Dorn im Auge. So dauerte es nicht lange, dass er mich in ein Internat abschob.

      Ein trauriges Kapitel in meinem Leben.

       Kapitel 5

      Ich nahm einen großen Schluck Tee aus meiner gelben Tasse. Ein Blick auf die Uhr. Ich musste mich beeilen, wenn ich pünktlich bei Konrad sein wollte.

      Mit der Straßenbahn brauchte ich fast vierzig Minuten bis in die Innenstadt. Ich eilte die Hauptgeschäftsstraße entlang, drängelte mich zwischen den vielen Einkaufenden hindurch, denn ich wollte so schnell wie möglich wieder nach Hause zurück.

      Da die Sonne nun den Morgennebel endgültig durchbrochen hatte, waren alle Außentische der Cafés und Restaurants besetzt. Der übliche Samstagstrubel in einer Großstadt.

      Ich bog in eine ruhigere Seitengasse ein. Das Haus meines Onkels liegt ein wenig nach hinten versetzt. Zwei Stockwerke, oben seine Wohnung und im Erdgeschoss sein Buchladen.

      Eine alte, blau gestrichene Holztür zwischen zwei großen, ansprechend dekorierten Schaufenstern, die ich prüfend betrachtete.

      „Du hast sie dieses Mal wieder sehr schön eingerichtet. Die Leute fühlen sich angesprochen, viele haben sich lobend darüber geäußert, vor allem die Kinder“, ertönte Konrads Stimme, während er die Tür öffnete.

      Wir blieben einen Moment vor den Schaufenstern stehen. Sie waren mir tatsächlich gut gelungen. Bücher im Herbst war das Motto und entsprechend hatte ich die Fenster mit bunten Stoffblättern, kleinen Igeln und Eichhörnchen, die meine Freundin Claudia in ihrer Töpferei angefertigt hatte, dekoriert. Ich nickte meinem Onkel zufrieden zu.

      Vor ihm betrat ich den Laden und wie immer spürte

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