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welche praktisch Fehlanpassungen von Knochen und Weichteilgeweben beseitigen könne, sodass dann der Lebenskraft, den Selbstheilungskräften usf. die Möglichkeit verschafft werde, die Krankheit zu überwinden.

      Schon früh versteht Littlejohn den Menschen als Organismus in einer Umwelt, der sich anpassen muss. Dabei unterstellt Littlejohn, dass dieses Verhältnis von Organismus und Umwelt im Organismus durch ein Selbstverhältnis und ein Verhältnis der Teile des Organismus zueinander und zum gesamten Organismus geprägt ist. Dieses Verhältnis von Verhältnissen kann leicht durch die Störung irgendeines Teilverhältnisses als Ganzes gestört werden – und hieraus kann Krankheit entstehen, sofern das Verhältnis von Verhältnissen nicht wieder angepasst wird. Diesen grundsätzlich biologischen Ansatz nennt Littlejohn in den Texten aus der Phase der British School of Osteopathy auch explizit so: Es ist ein biologisch-systemtheoretischer Ansatz, der u. a. auf die Anregungen von Herbert Spencer zurückgeht. Darüber hinaus bezieht Littlejohn sich auf weitere Biologen wie Thomas Henry Huxley und Julian Huxley, ohne sich deren agnostische Position zu eigen zu machen.

      Die mechanische Therapie der Osteopathie greift hilfreich in Störungen dieses Verhältnisses von Verhältnissen ein – und ist somit naturheilkundlich. Littlejohn ist abgesehen von antitoxischen Maßnahmen ein strikter Gegner von Medikamenten, weil diese aus einer Sicht dem Organismus etwas Fremdes oder Fremdartiges zuführen, ihn daher nicht positiv stimulieren oder hemmen, sondern weiter stören. Die manipulative Therapie der Osteopath/inn/en beziehe sich, so Littlejohn, demgegenüber auf das Nervensystem, das gehemmt und stimuliert werden könne. So entstünden positive physiologische Wirkungen, weil die mechanische Hemmung oder Stimulation in physiologisch hilfreiche Prozesse konvertiert werden könne.

      Die Unabhängigkeit der Osteopathie als System der Heilung besteht also darin, dass sie eine unschädliche, gleichwohl hilfreiche Therapie anbieten kann, die in der Lage ist, gehemmte oder übermäßig stimulierte physiologische Prozesse zu normalisieren.

      ANERKENNUNGSPROZESSE

      Insbesondere die Texte aus The Osteopathic World zeigen, dass Littlejohn als studierter politischer Philosoph und Jurist sehr genau um die demokratischen Regularien der Anerkennung der Osteopathie Bescheid wusste. Die osteopathische Eigenleistung für die Anerkennung durch die amerikanischen Staaten und dann auch durch das Vereinigte Königreich bestand s. E. vor allem darin, dass sich die Osteopathie

      (1)auf dem wissenschaftlichen Niveau der Zeit bewege – und

      (2)eine hinreichend komplexe Ausbildung der Studierenden gewährleisten könne.

      Littlejohn war stets bemüht, die osteopathische Ausbildung zu verbessern, was sich u. a. an den Debatten um die Kurslänge (zwei, drei oder vier Jahre) zeigt, zuletzt in der British School of Osteopathy soll es sich um einen Fünfjahreskurs handeln. Offenbar sollte Littlejohns eigene Doppelexistenz als regulärer Mediziner und Osteopath den Anerkennungsprozess fördern. Littlejohns Programm bestand darin, die staatliche Anerkennung durch Steigerung der Wissenschaftlichkeit zu erreichen. Dieses Programm darf nicht missverstanden werden, hiergegen wenden sich z. T. auch die Texte Littlejohns explizit12: Littlejohns Bestreben ging nicht dahin, die Osteopathie mit der Medikamententherapie zu verbinden.13 Diese hielt er – abgesehen von Notmaßnahmen – für schädlich. Sie verstieß also s. E. gegen den Hippokratischen Eid, wie er nicht selten betont. Demgegenüber wollte er durch Forschung alle möglichen naturheilkundlichen Verfahren ausschöpfen, um einen naturgemäßen Heilungserfolg zu erzielen. Dabei bemühte er sich u. a. um internationale Kontakte auf einer Reise nach Zentraleuropa. Ebenso förderte er das A. T. Still Research Institute, in dem er nicht nur eigene Forschungen betrieb14, sondern auch moderne Formen der statistischen Forschung begünstigte.15 Diese Forschungen setzte er nach seiner Rückkehr nach Großbritannien fort, wozu u. a. auch die Gründung der British School of Osteopathy dienen sollte, die wegen des Ersten Weltkriegs erst 1917 erfolgte. In der Spätzeit unterstützte er die Gründung eines schottischen Forschungsinstitutes.

      Diesen Anerkennungsprozess begleitete Littlejohn nicht zuletzt durch ausgedehnten wissenschaftlichen Journalismus16, dessen Notwendigkeit er nicht nur einsah, sondern auch kunstgerecht betrieb. Er bespricht in seinen Zeitschriften, dem Journal of the Science of Osteopathy, dann der Osteopathic World und schließlich dem Journal of Osteopathy (London), nicht nur wissenschaftliche Themen der Osteopathie und die Probleme ihrer Anerkennung. Er fasst sehr viele Artikel aus anderen Zeitschriften zusammen, sodass die Leser/innen des vorliegenden Kompendiums einen sehr guten historischen Überblick über damalige Positionen im Kontext der Medizin und der Heilkunst gewinnen. Dabei lesen wir auch viele Polemiken gegen die Osteopathie und erleben Littlejohn nicht nur friedlich, sondern auch als Polemiker hohen Grades, der durchaus scharf austeilen kann. Offenbar konnte er sich über bestimmte Punkte ziemlich aufregen.

      Diese Eigenart wurde ihm offenbar in der Anhörung des House of Lords zu einem Gesetz, das die Osteopathie staatlich anerkennen sollte, zum Verhängnis.17 Der Anwalt der British Medical Association, Sir William Jowitt, verfolgte die Strategie, die Glaubwürdigkeit Littlejohns zu unterminieren. Ziel war hierbei zu zeigen, dass die Osteopathen keine solide Ausbildungsgrundlage besäßen. Diese Strategie war höchst erfolgreich. Am meisten hat zu diesem Erfolg Littlejohn selbst beigetragen, weil er sich in Widersprüche verwickelte und nachweislich die Unwahrheit sagte. Wer die Polemiken aus The Osteopathic World aufmerksam liest, kann wahrnehmen, dass neben dem besonnenen und klaren Denker Littlejohn auch ein zur Unbesonnenheit neigender und wenig gelassener Polemiker Littlejohn existierte, der sich über ungerechte Behandlung sehr aufregen konnte. Diesen Punkt scheint Sir William Jowitt genau getroffen zu haben. Obgleich Littlejohn schon in der Anhörung durch ein weiteres Kreuzverhör mit Harold Murphy, dem Anwalt der Osteopathen, den Schaden etwas zu begrenzen versuchte18, blieb der Eindruck bei den Lords sicher verheerend.

      Vielleicht hängt diese krasse Fehlreaktion auch damit zusammen, dass Littlejohn seine ironische Art gegenüber der regular medicine, die man im Deutschen als ‚Schulmedizin‘ bezeichnen kann, gröblich missachtet sah. Denn der späte Littlejohn strebte in Großbritannien anders als in den USA eine Kooperation von Schulmedizin und Osteopathie an. Die Position der frühen Texte ist klar: Die Osteopathie ist eine vollständige Heilkunst – und schließt auch die Chirurgie im operativen Sinn ein, auch wenn dies seltener und kompetenter als bei der regular medicine der Fall sei. In Großbritannien vertritt der späte Littlejohn aber die These, die major surgery, also die operative Chirurgie, solle von den Schulmedizinern ausgeführt werden. Die gleiche Struktur ist im Curriculum der British School of Osteopathy erkennbar19: Die der eigentlichen Medizin vorausliegenden Wissenschaften werden an Medical Schools studiert, die osteopathische Anatomie und Physiologie ist stark angewandte Anatomie und Physiologie. Das ist noch nicht die Struktur der heute im gesundheitswissenschaftlichen Diskurs beliebten Komplementärmedizin‘, aber es ist sehr wohl ein Schritt dorthin.

      LITTLEJOHNS VERHÄLTNIS ZU STILL

      Littlejohn ist neben dem ganz anders ansetzenden William G. Sutherland der bedeutendste Still-Schüler. Anders als Still hatte Littlejohn aber eine komplexe wissenschaftliche und philosophische universitäre Ausbildung, wobei nach meinem Eindruck gelegentlich übersehen wird, dass auch Still eine Medical School besucht und den Grad eines M. D., auf Deutsch ungefähr: Dr. med.20, erworben hat. Still war ziemlich gebildet, aber eben eher durch Eigenstudium, wobei ihm das Frontier, das Grenzland, ein reiches, gerade auch naturwissenschaftliches und naturphilosophisches Forschungsmaterial bot. Littlejohn erkennt mehrfach die gewaltige Forscherleistung Stills, dieses „[…] wahren Genius des Mississippi-Tales“ 21, an. Aber auch in Anwesenheit Stills vertritt er rhetorisch z. T. brillant, dass Still in der kulturellen Abgeschiedenheit jenes Tals das eine oder andere wiederentdeckt hat, was durch die 2.300 Jahre der relevanten Medizingeschichte zuvor durchaus schon entdeckt worden war. Wer Stills eigene Rhetorik in seinen Büchern nicht als Rhetorik durchschaut, wird hier einen klaren Widerspruch zwischen den beiden Osteopathen entdecken. Still setzt sich ja nicht nur scharf von der Schulmedizin seiner Zeit ab, gerade auch der Schulmedizin bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die wohl im amerikanischen Bürgerkrieg noch stark wirksam war, an dem Still als Chirurg

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