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oder den Gurus der Esoterikszene. Aber nicht nur die Religionen und Glaubensrichtungen, unser ganzer Alltag ist durchdrungen von den geistigen Modellen, die der Hohepriester verkörpert: Ob Platon oder Seneca, Marx, Nietzsche oder Goethe, alle Denker, Philosophen, viele Geschichtsschreiber und einige Schriftsteller entsprechen der Energie dieses Archetypen, denn unsere Welt wurde und wird durch ihre Glaubenskonzepte gestaltet. Wenn wir also ein philosophisches Buch lesen oder einen Gottesdienst besuchen, über den Sinn des Lebens nachdenken, Seminare abhalten oder die Schulbank drücken, Zeitung lesen oder im Fernsehen eine politische Diskussion verfolgen, dann begegnen wir in unserem täglichen Leben dem Hohepriester, der unsere Weltanschauung formt und damit unser Leben bestimmt, und zwar so subtil, dass wir es gar nicht merken. Er stellt uns die Projektionsfläche zur Verfügung, die wir brauchen, um uns zu spiegeln und unsere eigenen Glaubensvorstellungen im Spiegelbild festhalten zu können. Je mehr wir uns von unserem Instinkt und aus unserer Mitte entfernen, desto mehr bedarf es eines Glaubenskonstrukts, das uns einen neuen Inhalt für unser Tun und Handeln anbietet. So halten wir uns an ihm fest, um unserem Leben einen Sinn zu geben.

      Beruf und Finanzen

      Alle Berufe, in denen wir mit Glaubensmodellen arbeiten und dadurch Macht ausüben, also Lehrer, Gelehrter, Politiker oder Literaturkritiker - vom Pfarrer ganz zu schweigen -, entsprechen dieser Karte. Wenn wir dem Hohepriester in diesem Bereich begegnen, kann das auch bedeuten, dass wir uns von einem klugen Menschen, dem wir vertrauen, beruflich Rat einholen. Das Weltliche wie Karriere oder Geld spielt dabei neben der Sinnsuche und der Auseinandersetzung mit den verschiedensten geistigen Lehren die zweite Geige. Wir können ebenso belesen wie engstirnig sein, halten unsere Ideen und Vorstellungen zumeist für die einzig wahren und versuchen, unsere Kollegen zu bekehren. Wir sind so überzeugt von unserem Wissen und unserer Weltanschauung, dass wir damit für andere schnell belehrend wirken können. In der Finanzwelt kommen wir am wahrscheinlichsten zu Geld, wenn wir Ideen, Konzepte oder andere geistige Produkte anbieten. Der schnöde Mammon interessiert den Hohepriester zwar nicht so sehr wie Glaubensfragen, aber als Partner des Herrschers ist er sich der Wichtigkeit des Geldes bewusst, um eine Machtposition zu erlangen oder zu festigen und seine Weltsicht zu verbreiten.

      Umgekehrt

      In der umgedrehten Lage finden wir weder Sinn noch Sicherheit innerhalb unseres Berufes. Dies bedeutet, dass wir in einigen Bereichen geradezu revolutionäre Ideen haben können, mit denen wir bisherige eingefahrene Abläufe und Gedankenmodelle in Frage stellen. Wir wehren uns gegen feststehende geistige Strukturen und Gehorsam, wir wollen allein unseren eigenen Weg gehen - dafür kämpfen wir, auch wenn wir dadurch in Schwierigkeiten mit dem Vorgesetzten oder den Kollegen geraten. Manchmal ist die umgekehrte Karte auch ein Hinweis darauf, dass der Job, den wir zur Zeit ausüben, für uns nach einer radikalen Änderung unserer Sichtweise keinen Sinn mehr macht und wir überlegen, ob wir den Arbeitgeber wechseln oder gar den Beruf an den Nagel hängen sollten.

      Liebe und Beziehung

      In unseren persönlichen Beziehungen können wir mit unseren Partnern oder Freunden stundenlang über unsere Lebensmodelle diskutieren. Wir haben starke ethische Werte, vielleicht auch eine Art Ehrenkodex, dem wir uns unterwerfen und dessen Einhaltung wir auch von anderen fordern. Da der Hohepriester dem Prinzip des Geistes entspricht, liegt unser Fokus in erster Linie darauf, ob sich die gegenseitigen Weltanschauungen entsprechen, denn wir ziehen unsere innere Sicherheit und das Vertrauen zum anderen daraus, dass wir mit ihm in unserer Sichtweise übereinstimmen. Deshalb neigen wir dazu, Freunde, die unsere Glaubensvorstellungen nicht teilen, abzuwerten oder gar aus unserem näheren Bekanntenkreis zu verbannen. Außerdem sind wir die perfekten Moralapostel. Über unseren Partner beispielsweise, der gegen die gemeinsamen ethischen Grundsätze verstoßen hat, können wir sehr streng und hart »zu Gericht sitzen«. Manchmal kann der Hohepriester ein Hinweis auf eine Person sein, von der wir viel lernen. Vielleicht gehen wir eine Beziehung zu einem älteren Menschen ein, der für uns die Lehrerrolle übernimmt, oder wir haben in unserem Bekanntenkreis eine solche Seele, die wir gerne um Rat fragen und deren Weltsicht für uns Vorbildcharakter hat. Im psychischen Bereich verweist die Karte auf alte Muster und Programmierungen aus unserer Vergangenheit, an denen wir festhalten und die uns in der Entwicklung blockieren. Als Gegenkraft zur Herrscherin kann der Hohepriester auch bedeuten, dass wir zu viel Energie in den geistigen Bereich der Beziehung lenken und uns zu wenig um unser körperliches Wohlbefinden kümmern. Womöglich beachten wir den Körper nicht genug und haben weniger Interesse an Sexualität als an Askese.

      Umgekehrt

      Im Gegensatz zur aufrechten Karte wird der Moralapostel hier zum »freien Radikalen«. Vielleicht haben wir es satt, uns ewig den gesellschaftlich herrschenden Moralvorstellungen unterzuordnen, und entwickeln unsere ganz eigenen Ideen darüber, wie Verbindungen zu anderen Menschen - besonders die Liebesbeziehungen - auszusehen haben. So leben wir sehr unorthodoxe Beziehungsmodelle, mit denen wir bei konservativen Zeitgenossen zuweilen heftig anecken. In der Umkehrung dieser Karte sind wir auch wesentlich aufgeschlossener für sinnliche Genüsse als in der aufrechten Position. Es kann auch sein, dass wir der Fleischlichkeit plötzlich große Wichtigkeit beimessen - sie sozusagen zu unserer neuen Religion erheben. In bestehenden Verbindungen erstaunen wir vielleicht unsere Freunde oder den Partner mit einer neuen, revolutionären Idee darüber, wie die Beziehung zukünftig zu gestalten wäre, oder wir denken darüber nach, ob die Partnerschaft noch Sinn macht, weil wir mit den Vorstellungen des anderen nicht mehr konform sind.

      Magie und Spiritualität

      So wie die Hohepriesterin oder Herrscherin eine matriarchalische Religionsausübung symbolisiert, so steht der Hohepriester für alle hierarchisch und patriarchalisch strukturierten Glaubensinhalte. Während der Herrscherin Schamanismus und Hexenlehre zugeordnet sind, umfasst der Archetyp des Hohepriesters philosophische Sinnkonzepte ebenso wie alle großen zeitgenössischen Religionen oder einen streng gegliederten magischen Orden, dessen Mitglieder festen Gesetzen folgen. Strukturen und weltliches Gerüst hat der Herrscher erschaffen, doch der Hohepriester füllt das Ganze erst mit Inhalt und Sinn. Deshalb ist uns im täglichen Leben unser Glaube sehr wichtig und die Lehre wird je nach Art der von uns bevorzugten Bekenntnisse für uns zur unumstößlichen Wahrheit. Lebenshalt und Sicherheit beziehen wir aus dem Umstand, dass wir uns der Weltanschauung eines solchen Modells bedingungslos unterordnen. Wirkliche Spiritualität oder Magie können wir auf diese Weise natürlich nicht leben, denn alles, was seinen ureigensten Weg ohne geistige Leitschienen direkt aus uns findet, verunsichert und beunruhigt den Hohepriester. Schließlich repräsentiert er die Suche nach der Suche, die wir mit geistigen Konzepten füllen, und wo immer es um Glaubensfragen geht, ist auch die Inquisition nicht weit. So kann die Angst, die wir vor fremden Religionen oder anderen Sichtweisen entwickeln, so weit gehen, dass wir andere Menschen für ihre Vorstellungen verurteilen, bekämpfen oder gar quälen.

      Umgekehrt

      Der umgekehrte Hohepriester wehrt sich vehement gegen alles Festgefahrene. Er ist ein Umstürzler traditioneller Glaubensinhalte. Möglicherweise erleben wir unter dem Einfluss dieser Karte eine Zeit, in der unser altes Weltgebäude komplett zusammenbricht. Wir können das, was wir zuvor für die Wahrheit hielten, nicht mehr ernst nehmen. Wir suchen nach Ersatz und bauen uns eine neue, eigene Sicht, die wir dann ebenso zur alleinigen Wahrheit küren, wie es die Religionen tun, von denen wir uns abgewandt haben. Deshalb findet keine wirkliche Befreiung statt. Wir haben den verkrusteten, überholten Glaubensstrukturen zwar den Rücken gekehrt, aber die Gegenposition bezogen und sind daher nicht wirklich erlöst von den alten Vorstellungen. Der auf dem Kopf stehende Hohepriester kann somit auch als Aufforderung angesehen werden, sich dies einzugestehen und sich selbst im »Verkehrten« wieder umzudrehen.

      VI Die Liebenden

      Anziehung, Zuneigung, Vereinigung

      Im

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