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durchsetzbar, doch kann es als Kompass dienen für die Bestimmung von Nahzielen in der Politik, als Maßstab für unsere Forderungen, als Basis unserer Kritik, als Hoffnung, als konkrete Utopie, die alle Menschen einbezieht und in der endlich die Entwicklung jedes Einzelnen zur Voraussetzung für die Entwicklung aller werden kann.

      Der politische Umgang mit Erwerbsarbeit braucht die Einbeziehung von Fragen der Lebensweise. Wie verarbeiten die handelnden Subjekte vor allem die Brüche, die die Entwicklung der Produktivkräfte hervorrufen und die auch die Politik von oben verändern?

      Das Feld der Arbeit ist ein hochgradig umkämpftes Terrain. Die vier Beiträge in diesem Bereich setzen je andere Schwerpunkte. Der erste geht zurück an den Anfang individueller Selbstfindung, an die Erfahrung mit Arbeit, wo sie noch Horizont ist, der erreicht werden will. In gewisser Weise umreißt dieser erste Beitrag die Utopie des Neuanfangs und beginnt von vorn die Blockierungen aufzuspüren, die das Utopische in die Entfremdung führen. – Konsequent wird vorangeschritten zur subjektorientierten Arbeitsforschung in der von Hochtechnologie bestimmten Arbeitsweise. Hier wird früh die Fruchtbarkeit deutlich, die die Hereinnahme der Kategorie Geschlecht und damit die Wahrnehmung der weiblichen Arbeitssubjekte bedeutet. Dieser Beitrag wurde vor 20 Jahren geschrieben und berichtet aus zwei empirischen Projekten. Man könnte daher annehmen, dass er inzwischen von der schnellen technologischen Entwicklung und den Fortschritten in der Arbeitsforschung überholt sei. Der Aufsatz endet mit einem Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Arbeitsforschung, der diese erst zu einer brauchbaren Wissenschaft für die Arbeitssubjekte beider Geschlechter macht. Vergleicht man neue Arbeitsforschung zur Problematik der Geschlechterungleichheit in der Arbeitsteilung, der Kompetenz, der kulturellen Barrieren, des Entgelts, der Wertschätzung usw. (etwa Buhr 2006), so erhellt, dass die 20 Jahre zuvor erarbeiteten Vorschläge noch nicht gegriffen haben und in dieser Weise aktuell bleiben. – Der Aufsatz zur Terrainverschiebung ist am deutlichsten als Vorarbeit zur Vier-in-einem-Perspektive erkennbar. Er führt die Integration von Forderungen aus der Frauenbewegung ins neoliberale Projekt vor und ist Zeugnis, wie notwendig und zeitgemäß ein solcher Eingriff in den Arbeitsbegriff, ins Zeitregime und vor allem in die Politik ist. Er zeigt, wie ein Sieg eine Niederlage sein kann und lehrt zugleich, mit solchen Widersprüchen umzugehen. – Dafür ist der vierte Text zu Hartz IV ein wichtiges Lehrstück. Er führt aus den lähmenden Politiken gegen das Elend, das Hartz IV für viele bedeutet, in die Empörung, die dem gesamten Menschenbild gilt, das hinter der Arbeitspolitik der Regierung steht. Als Analyse, die den Zorn stärkt, ist er zugleich heiter zu lesen und nutzt Humor als Waffe. Vier-in-einem statt Hartz IV ist die befreiende Losung.

      Die zeitgemäße Kritik an der Bedeutung von Arbeit für sozialwissenschaftliche und auch feministische Theorie und gesellschaftliche Praxis erfahre ich als persönliche Verunsicherung. Denn Arbeit erinnere ich als fast magisches Zentrum meines Lebens von klein an.

       Arbeitsbiographie

      Da war zunächst das Milchholen beim Bauern. Meine um zwei Jahre ältere Schwester durfte das, ich nicht. Milchholen war Arbeit. Vor mir ein abenteuerliches Leben voller Bedeutung und Wichtigkeit. Ich würde eine halbe Stunde früher aufstehen müssen, weil ich etwas Großes vorhatte; ich würde einen weiten Weg alleine gehen, auf dem ich Gänse passieren musste, vor denen ich mich fürchtete; ich würde die Milch nach Hause bringen, die nötig war und gut schmeckte, und ich würde mich weder verlaufen, noch etwas verschütten, noch zu lange brauchen. Dann würde ich wesentlich älter sein als mein zwei Jahre jüngerer Bruder. Milch holen – die Worte verbanden sich mit Gefühlen von Wildheit, Unabhängigkeit, Größe und Welt und mit einer Unsicherheit, die ich unbedingt wollte. Endlich. Das Hochgefühl hielt einige Wochen an. Ich entdeckte Abkürzungen mit anderen Gefahren. Die schreienden Gänse mit vorgestreckten Hälsen ließen sich umgehen, wenn ich vom Weg abwich und einen eingezäunten Acker durchquerte. Dafür musste ich so schnell laufen, dass der Bauer mit dem Stock mich nicht erreichte. Beim Klettern über die Zäune verschüttete ich oft Milch, aber ich brauchte fast 5 Minuten weniger Zeit. Wenn ich hinfiel, kam Dreck in die Kanne. Langsam wurde das Milchholen zu einer lästigen Aufgabe, der ich mich so dringlich zu entledigen suchte, wie ich sie zuvor gewünscht hatte. Glücklicherweise hatte mein Bruder das gleiche Verlangen nach Größe. Die Pflicht ließ sich abgeben. Aber das Milchholen war ja nur ein Anfang gewesen. Ich war jetzt groß genug, andere häusliche Aufgaben zu übernehmen. Die Enttäuschung über die vergangene Lust spornte mich an, frühzeitig auf Abhilfe zu sinnen. Ich verschwand, wenn es ans Abwaschen ging; ich wurde krank, wenn der Frühjahrsputz nahte; kurz, ich verwendete all meine Energie auf die Vermeidung von Arbeit. Für die Schule entwickelte ich Rationalisierungsstrategien. Alle Fächer wurden von mir so gelebt, dass ich ohne Arbeit durchrutschen konnte. Wenn irgendeine Note sich in den Gefahrenbereich »4« begab, war ich untröstlich, denn das bedeutete: ich musste arbeiten. Als Fahrschülerin verbannte ich solche Hausaufgaben in die Zeit im Zug und in die Pausen, sodass alle übrige Zeit »frei« war zum Lesen, Träumen und Durch-die-Wälder-Streifen. Hier arbeiteten wir schwer, indem wir Hütten bauten, Stollen gruben, ja Bäume fällten und Zweige flochten.

      In dieser Zeit nannte man mich zuweilen »Schneckchen«, weil ich herausgefunden hatte, dass Arbeiten im Hause weniger werden, wenn man sich ihnen so widerwillig und langsam nähert, dass ein anderer sie stattdessen ergreift. Meine gesamte Lebensorganisation war bestimmt durch Arbeit bzw. ihre Vermeidung. Ja meine Moral wurde durch sie zersetzt, weil ich häufig ihretwegen lügen musste.

      Das Gefühl vom ersten Milchholen wiederholte sich, als ich an die Universität kam. Mein größtes Unglück war, dass in den ersten zwei Wochen fast nichts los war. Aber dann warf ich mich in den Rausch des Lernens. Ich belegte zwanzig Seminare und Vorlesungen, übernahm sieben Referate im ersten Semester. Die Universität betrat ich um acht Uhr früh und verließ sie abends um zehn Uhr, um dann noch tanzen oder schwimmen zu gehen und endlos zu diskutieren. Meine Nahrung war Schokolade. Ich war begeistert. In den folgenden Semestern verschob ich die Lernstunden nur wenig; mehr Zeit für die Bibliotheken ergab sich durch ein kritischeres Urteil über einige Veranstaltungen, die ich darum aus dem Stundenplan strich. Nur in zwei Semestern änderte ich meine Lebensorganisation: einmal, weil ich zu verliebt war, um überhaupt in die Universität zu gehen; ein andermal, weil ich in zu viele politische Veranstaltungen und Demonstrationen verwickelt war, um die davon noch unberührten Seminare bei den Historikern besuchen zu können. Mein Studium wurde lediglich dadurch gestört, dass ich arbeiten musste, um Geld zu verdienen. Aber auch dieses konnte ich durch Erlangen einer der so begehrten »Hilfswissenschaftlerstellen« schon im dritten Semester regeln. Ach, wenn es ewig so bleiben könnte!

      Nach dem zehnten Semester mehrten sich Fragen nach dem Studienabschluss; viele, mit denen ich begonnen hatte, schrieben an ihren Examensarbeiten oder hatten die Universität ohne Abschluss verlassen. Der Gedanke an eine Dissertation machte mich krank. Ich schrieb mehr und mehr Referate, um das große Referat nicht schreiben zu müssen. Da plötzlich erfuhr ich in einer ansonsten langweiligen Vorlesung etwas Aufregendes: In der frühen Sowjetunion hatte es »Arbeitseinsätze« gegeben, in denen große Menschengruppen unentgeltlich ihre Samstage damit verbrachten, einen Beitrag für den gesellschaftlichen Aufbau zu leisten. Sie wurden Subbotniks genannt. Lenin selbst beteiligte sich an ihnen. Er, den ich mir als Tag und Nacht arbeitend, schreibend, bedenkend und aufrüttelnde Reden haltend, als ständig überarbeitet und erschöpft dachte. In die Lethargie des drohenden Examens kam die Lust des frühen Milchholens, bereichert um den Hüttenbau der Schulzeit und die Ausdehnung der Universitätsjahre. Hier war in meiner Vorstellung ein ganzes Volk gemeinsam unterwegs in dieser begeisterten Lust, zusammen lebendig zu sein in der Arbeit.

      Arbeit, so hatte ich zunächst geglaubt, das ist das Glück des Lebens. Arbeit ist Langeweile, Mühsal, ja Elend und tritt an die Stelle des Lebens – dies waren die Erfahrungen und Lehren insbesondere aus meiner Schulzeit. Der Stachel blieb. Arbeit, so empfand ich jetzt wieder, das ist Zukünftiges und schon wirklich heute.

      In kühnem Schwung verband ich die Mühseligkeit der Arbeit mit der Entwicklung der Theorie von Aristoteles bis Hegel und ihre Lust mit der Wirklichkeit der Subbotniks und der Theorie des Marxismus. In diesen Rahmen spannte ich mein Dissertationsprojekt.

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