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sich zwei Phasen des Jerusalemer Christentums unterscheiden, die Zeit vor dem Jüdischen Krieg im Jahre 70 n. Chr. und die Zeit danach, die den Jerusalemer Christen ein weiteres Verweilen in der jüdischen Metropole kaum mehr erlaubte, weil mit der Zerstörung des Tempels durch Heiden der heilige Ort auf Dauer geschändet worden und so ein Bruch mit der Vergangenheit vollzogen war.

      Wie die Jerusalemer Christen die heilige Stadt der Juden verlassen haben, ist umstritten. Eine dogmatisch motivierte Antwort bietet der Kirchenvater Euseb im 4. Jh. Er schreibt darüber Folgendes in seiner Kirchengeschichte (= KG) III 5,2 f (die entsprechenden Bibelverse, die Euseb im Blick hat, sind in Klammern gesetzt):

      (2) »Als nun nach der Himmelfahrt unseres Erlösers (Apg 1,9) die Juden zu dem Verbrechen an dem Erlöser (sc. als Schuldige an seinem Tode: 1Thess 2,15; Mk 15,6 – 15) auch noch die höchst zahlreichen Vergehen an seinen Aposteln begangen hatten, als zunächst Stephanus von ihnen gesteinigt (Apg 7,58 f), sodann nach ihm Jakobus, der Sohn des Zebedäus und Bruder des Johannes, enthauptet (Apg 12,2 f) und schließlich Jakobus, welcher nach der Himmelfahrt unseres Erlösers zuerst den bischöflichen Stuhl in Jerusalem erhalten hatte, auf die angegebene Weise beseitigt worden war1, als die übrigen Apostel nach unzähligen Todesgefahren, die man ihnen bereitet hatte, das Judenland verlassen hatten und mit der Kraft Christi, der zu ihnen gesagt hatte: ›Geht hin und lehrt alle Völker in meinem Namen!‹ (Mt 28,19) zur Predigt des Evangeliums zu allen Völkern hinausgezogen waren, (3) als endlich die Kirchengemeinde in Jerusalem in einer Offenbarung, die ihren Führern geworden war, die Weissagung erhalten hatte, noch vor dem Krieg die Stadt zu verlassen und sich in einer Stadt Peräas, namens Pella, niederzulassen, und als sodann die Christgläubigen von Jerusalem weggezogen waren, und weil damit gleichsam die heiligen Männer die königliche Hauptstadt der Juden und ganz Judäa völlig geräumt hatten, da brach zuletzt das Strafgericht Gottes über die Juden wegen der vielen Freveltaten, die sie an Christus und seinen Aposteln begangen hatten, herein und vertilgte gänzlich dieses Geschlecht der Gottlosen aus der Menschengeschichte.«

      Der übergreifende Zusammenhang ist die dogmatische Aussage, dass die Zerstörung Jerusalems eine Strafe Gottes gegen die vielen »Untaten« der ungläubigen Juden gegen Jesus und seine Apostel war.2 In sie flicht Euseb die auf Überlieferung zurückgehende Einzelnachricht3 ein, dass die Christen vor dem Krieg die Weissagung erhielten, Jerusalem zu verlassen und in Pella Wohnung zu nehmen. Damit ist eine klare Trennung erreicht zwischen den Guten, die bisher eine Katastrophe verhindert haben, und den »Bösewichtern«, die in der Stadt bleiben und jetzt, da die heiligen Männer Jerusalem und überhaupt ganz Judäa verlassen haben, bestraft werden können.

      Doch erregt hier wie sonst in der Geschichte ein Bericht von einem derart eindeutigen Verlauf das Misstrauen. Folgende Fragen stellen sich:

      1. Wie alt ist und von wem stammt die Überlieferung vom Auszug der Urgemeinde nach Pella? Antwort: Sie dürfte auf Aristo von Pella (= Anfang des 2. Jh.s) zurückgehen (vgl. Euseb, KG IV 6,3 f) und setzt voraus, dass die Gemeinde in Pella geblieben und nicht nach Jerusalem zurückgekehrt ist.

      2. Gibt es auch konkurrierende Traditionen? Das ist zweifellos der Fall. Der aus Palästina gebürtige Judenchrist Hegesipp verfasste in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s ein fünfbändiges Werk »Hypomnemata«. Von ihm sind umfangreiche Fragmente in Eusebs Kirchengeschichte erhalten, in denen Hegesipp klar erkennbar von einer Kontinuität der Jerusalemer Gemeinde ausgeht.

      3. Ist es vorstellbar, dass die Gesamtheit der Jerusalemer Gemeinde noch so kurz vor dem Krieg hätte fliehen können? Kaum. Verfechter der Historizität der Pella-Nachricht sind daher auch gezwungen, den Auszug vorzudatieren, z. B. ins Jahr 62, unmittelbar nach der Ermordung des Jakobus.

      4. Wenn Pella anerkanntermaßen eine heidnische Stadt war, ist es dann überhaupt denkbar, dass dort eine judenchristliche Gruppe Zuflucht erhalten hätte? Die Frage ist zu verneinen.

      An anderer Stelle4 habe ich diese Fragen ausführlicher behandelt und bin zu dem Schluss gekommen, dass die Tradition eines Auszugs der Urgemeinde von Jerusalem nach Pella unhistorisch und die Gründungslegende der Pellenser Kirche ist, die sich mit ihr von der Jerusalemer Gemeinde herleitete. Jetzt möchte ich die These insoweit ergänzen, dass unmittelbarer Anlass der Entstehung dieser Überlieferung die Erzählung einzelner Jerusalemer Judenchristen gewesen sein mag, die in der Tat kurz vor dem Krieg Jerusalem verlassen hatten, ebenso wie andere Juden auch (vgl. Josephus, Ant XX, 256/​Bell II 279: Ende 64 n. Chr., mit dem Amtsantritt des Gessius Florus, haben Juden Jerusalem verlassen).5 Diese Christen hätten dann später in Pella einen bleibenden Wohnort gefunden.

      Jedenfalls bedeutete die Zerstörung des Tempels einen tiefen Einschnitt für die damalige Jerusalemer Gemeinde (und ebenfalls für die »nichtchristlichen« Juden). Ihre Nachfahren lebten in der Zukunft zersplittert an verschiedenen Orten: in Pella, Kokabe, Nazareth und im syrischen Beröa. Ein Teil der Urgemeinde aus Jerusalem sowie Teile des palästinischen Christentums dürften nach Kleinasien übergesiedelt sein (vgl. nur die Töchter des Philippus [Apg 21,8 f], von deren Ephesus- bzw. Hierapolis-Aufenthalt spätere Schriftsteller berichten [Polykrates von Ephesus bei Euseb, KG III 31,3 und Papias von Hierapolis, ebd., III 39,9]). Und schließlich ist die Möglichkeit nicht völlig von der Hand zu weisen, dass judenchristliche Restgruppen Jerusalemer Herkunft nach einiger Zeit wieder in Jerusalem ansässig geworden sind.

      Die Nachricht Eusebs (KG IV 5,2), bis zur Niederwerfung der Juden unter Hadrian seien in Jerusalem 15 Bischöfe einander gefolgt und alle von Geburt Hebräer gewesen, sollte man zugunsten der zuletzt angeführten Möglichkeit nicht ins Spiel bringen, denn diese Überlieferung ist aus zwei Gründen anzuzweifeln. Erstens hat angeblich der Nachfolger des Jakobus und zweite Bischof, Symeon, bis ca. 115 n. Chr. den Bischofsthron innegehabt.6 Dann aber ist es unwahrscheinlich, dass in der verbleibenden Zeit bis zum Aufstand unter Hadrian, d. h. in 20 Jahren, 13 Bischöfe regiert haben. Zweitens sagt Euseb im gleichen Atemzug, er habe »über die Jahre der Bischöfe in Jerusalem keine schriftliche Nachricht ausfindig machen können«. (KG IV 5,1). Das macht die ganze Bischofsliste nicht glaubwürdiger. Vermutlich stammt sie überhaupt vom heidenchristlichen Bischof Narzissus, Anfang des 3. Jh.s, oder von seinen Anhängern7, denn für die zweite Periode bis zu ihm führt Euseb in einem Schematismus8 gleichfalls 15 heidenchristliche Bischöfe auf (IV 5,1 – 4; V 12).

       Die Leitungsfunktion der Verwandten Jesu. Das Schicksal der Judenchristen

      Jakobus, der Herrenbruder, war die Autorität in der späteren Phase der Jerusalemer Gemeinde. Nach seiner Ermordung im Jahre 62 übte ein Vetter Jesu, Symeon, bis zur trajanischen Zeit (= 98 – 117) die Leitung des »Jerusalemer« Gemeindeverbandes aus. Allerdings wird nicht recht deutlich, ob sich sein Sitz in Jerusalem befand. Hegesipp setzt dies zwar voraus (bei Euseb, KG IV 22,4), weil er an der Kontinuität der Amtsinhaber auf dem Jerusalemer Bischofsstuhl interessiert ist9, doch ist das aus allgemeinen historischen Gründen unwahrscheinlich. Wir wissen nur, dass nach der Ermordung des Jakobus zu einem bestimmten Zeitpunkt Symeon sein Nachfolger wurde, und zwar, weil er mit Jesus verwandt war.

      Unter Trajan, so berichtet Hegesipp (bei Euseb, KG III 32,3), erlitt Symeon im Alter von 120 Jahren den Märtyrertod. Er muss also in Palästina eine bekannte Gestalt gewesen sein. Das gleiche gilt für die Enkel des Judas, der ein Bruder Jesu war. Sie wurden Hegesipp zufolge (bei Euseb, KG III 20,1 – 6) vor Kaiser Domitian geführt, aber wegen ihrer Harmlosigkeit in Freiheit gesetzt. Am Schluss der Erzählung heißt es:

      »Sie aber erhielten nach der Freilassung, da sie Bekenner und Verwandte des Herrn waren, führende Stellungen in der Kirche. Nachdem Frieden geworden war, lebten sie noch bis Trajan«. (20,6).

      Und schließlich besitzen wir ein weiteres Zeugnis über das Ansehen der Verwandten Jesu in Palästina, wenn es bei Euseb, KG I 7,14 (im Exzerpt aus Julius Africanus) heißt: »Die Herrenverwandten breiteten sich von den jüdischen Dörfern Nazareth und Kokabe aus über das übrige Land …«10 Man kann es kaum für einen Zufall ansehen, dass die Heimat der Herrenverwandten, Kokabe, und der Ort, wo zahlreiche Judenchristen wohnten, denselben Namen haben.11 Vielmehr deutet das auf eine Vereinigung beider Gruppen hin, die ja ohnehin wahrscheinlich ist, da der Herrenbruder Jakobus die Leitung der (judenchristlichen) Gemeinde Jerusalems innehatte.

      Von den anderen (Heiden-)Christen getrennt, waren

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