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Story durch die Lappen geht. Eine kleine Geschichte für ihn, aber die große Chance für dich.

      Das Rauschen der Dusche verstummte. Carla zögerte nicht lange und nahm sämtliche Papiere sowie das Zugticket aus der Mappe und stopfte alles zusammen in ihre Handtasche. Die leere Akte legte sie wieder an die Stelle auf dem Schreibtisch, auf der sie zuvor gelegen hatte.

       Jetzt nur schnell abhauen, dann bin ich am Bahnhof, noch bevor er etwas merkt.

      Sie fand ihren BH zwischen den Kissen des Sofas, die anderen Kleidungsstücke lagen auf dem Fußboden verstreut. Hastig zog sie sich an und stieß dabei ein Cocktailglas vom Couchtisch.

      »Carla?«, rief Maurizio aus dem Bad. »Bist du schon aufgestanden?«

      »Ja.« Sie zog sich ihre Bluse über.

      »Hör mal, wenn du willst, kannst du noch liegen bleiben. Ich muss mich nur vorbereiten – ich muss heute noch verreisen«, sagte Maurizio und band sich ein Handtuch um. Er öffnete die Badezimmertür und trat ins Schlafzimmer.

      »Carla?«

      Er hörte seine Wohnungstür zuschlagen. Wieder einmal war Carla aus seinem Leben verschwunden.

      So kam es, dass Carla jetzt im Zug saß, um zu einem kleinen Dorf zu fahren, dessen Namen sie noch nie gehört hatte: Cattolica. Schuldgefühle hatte sie keine.

       Ob er mir nachreisen wird? Vielleicht, aber ich habe sein Ticket und seine kompletten Unterlagen, was soll er ohne die schon erreichen?

      Selbst wenn er ihr folgen würde, Carla hatte gerade noch den Zug um 10.03 Uhr erwischt, sie hatte also einen Vorsprung. Abgesehen von ihrer Handtasche hatte sie kein weiteres Gepäck bei sich, was nicht weiter schlimm war, da sie am liebsten noch am selben Abend oder, wenn sie keinen Zug mehr bekommen würde, am folgenden Morgen zurückreisen wollte. Vielleicht würde sie dann direkt nach Rom durchfahren, dort in die Redaktion des Il Messaggero oder der La Repubblica hereinplatzen und den Stoff verkaufen. Die Geschichte eignete sich sowieso besser für eine Boulevardzeitung als für ein Nachrichtenblatt, was Carla nicht weiter störte.

       Vielleicht entdecke ich einen neuen Wallfahrtsort! Wäre doch witzig.

      Wenn sie ehrlich zu sich war, hielt sie den Inhalt des Interviews, das Maurizio (anscheinend telefonisch) mit einem Kellner in einer Bar namens Caffè della Vita geführt hatte, für reichlich unglaubwürdig. Sie wusste aber auch, dass viele Menschen eine derartige Story gerne hören würden. Die Menschen brauchten Geschichten, an die sie glauben konnten, da war sie sich sicher. Sie würde bereit sein, ihnen eine solche Geschichte zu liefern.

      Sie nahm einen Stift aus ihrer Handtasche und notierte Fotoapparat kaufen. Ein paar Bilder würden den Artikel abrunden.

      »Diesmal wirst du es schaffen«, sagte sie laut zu sich selbst, als sie den Stift zurück in die Tasche fallen ließ. Sie schaute wieder aus dem Fenster und abermals sah sie nichts als verbrannte Felder. Es bestand kein Zweifel – sie hatte die Großstadt hinter sich gelassen.

      Cattolica war ein ruhiges und verträumtes Dorf im Süden Siziliens. Die Küste lag etwa fünf Kilometer entfernt, und deshalb lebten dort nicht nur Bauern, sondern auch ein paar Fischer. Zu den besten Zeiten hatten hier um die neuntausend Menschen gewohnt, doch nach und nach waren die jungen Leute ins Ausland oder in die Städte gezogen, um Arbeit zu finden. Geblieben waren etwa dreitausend Einwohner, viele von ihnen bereits im Rentenalter. Nur im Sommer, da blühte der Ort für ein paar Wochen wieder auf, dann, wenn die Studenten aus Palermo in den Semesterferien ihre Eltern besuchten und wenn die Gastarbeiterfamilien aus Deutschland, Österreich oder auch aus England kamen, um ihre alte Heimat zu besuchen.

      Aber jetzt im Juni, da war von dieser Lebhaftigkeit noch nichts zu spüren. Lediglich ein paar alte Männer saßen an den Hausecken und diskutierten den ganzen Tag über die alten Zeiten. Und natürlich saßen auch in den Cafés rund um die große Piazza immer ein paar Leute, aber ansonsten war das Städtchen ruhig, beinahe totenstill.

      Niemandem fiel der fremde Mann auf, der schon den ganzen Vormittag durch die Straßen lief und der mit der Fototasche, die an seiner Schulter baumelte, leicht für einen Touristen gehalten werden konnte. Doch das harmlose Auftreten täuschte. Er war nicht einfach ein Urlauber. Es mochte sein, dass Gaetano bei seiner ersten Reise auf die Insel der Götter gerne mehr Zeit für Besichtigungen und andere Dinge, die Touristen gewöhnlich auf Sizilienreisen unternahmen, gehabt hätte. Er hatte sogar mehrere Reiseführer und Geschichtsbücher gelesen, bevor er seine Fahrt vom Festland aus angetreten hatte, und das, obwohl er eigentlich nur zum Arbeiten hierhergekommen war. Dennoch, die kulturellen Schätze der Insel hatten sein Interesse geweckt. Er begann sich bei seinen Studien über sich selbst zu wundern, dass er zuvor noch nie auf die Idee gekommen war, den südlichsten Teil seines Heimatlandes zu bereisen. Und nicht die jahrhundertealten Sehenswürdigkeiten waren es, denen seine Aufmerksamkeit galt, vor allem die lebhafte Geschichte des Inselreiches weckte seinen Forscherdrang. Denn die verschiedenen Völker, die in den letzten dreitausend Jahren auf Sizilien geherrscht hatten, hatten nicht nur architektonische und kulturelle Spuren hinterlassen, nein, ihn reizte vor allem ein ganz anderer, makaberer Aspekt. Gaetano schien es beinahe, als könnte an der Historie der Insel exemplarisch studiert werden, wie grausam die Menschen im Allgemeinen waren – egal, welcher Herkunft sie waren oder auf welcher Stufe gesellschaftlicher Entwicklung sie standen. Bis in die Neuzeit war eine Herrschaft unbarmherziger gewesen als die vorherige und auch die Bewohner Siziliens mussten im Laufe der Geschichte eine eigenwillige Haltung zur Gewalt entwickeln, um, allen Umständen zum Trotz, zu überleben.

      Doch das erschreckte Gaetano nicht. Wenn er hier geboren worden wäre, bestimmt wäre auch er bei einer der ehrenwerten Familien gelandet. Ehre und Grausamkeit, Stolz und Rache – das alles waren Dinge, die sehr nahe beieinanderliegen konnten. All diese Tugenden würden sich wunderbar in Sizilien studieren lassen. Zwar hatte auch er Werke von Rousseau gelesen, als er jung war. All diese philosophischen Theorien, die Menschen seien von Natur aus gut und so weiter – welch ein Schwachsinn. Natürlich war so etwas einfach zu schreiben, wenn man tagaus, tagein auf einem Chateau in der Schweiz saß und Rotwein schlürfte. Doch war es nicht auch Rousseau, der, bevor er größeren Ruhm erlangte, seine fünf leiblichen Sprösslinge in ein Heim für Findelkinder gegeben hatte, da er selbst mit seiner wichtigen Arbeit so wenig verdiente, dass er seine Frau losschickte, um den Lebensunterhalt zu verdienen, sodass diese keine Zeit mehr hatte, sich um die Kindererziehung zu kümmern? Ha, das konnte Rousseau seinen Kindern erzählen, dass er von Natur aus ein guter Mensch sei. Die Realität sah anders aus.

      Gaetano jedenfalls erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er das erste Mal einen Menschen tötete. Er war noch sehr jung, kaum einundzwanzig Jahre alt. Es war eine mondklare Nacht. Die Sterne funkelten im Meer und der Abzug klemmte, als er abdrücken wollte. Beinahe hätte sein Opfer fliehen können, doch er schlug den Mann schließlich mit dem Kolben seiner Pistole nieder. Hatte das aus ihm einen schlechteren Menschen gemacht, als er es zuvor gewesen war? Wohl kaum. Gaetano war sich sicher, schon immer genauso viel Schlechtes in sich getragen zu haben wie in diesem Moment. Schon als Kind hatte er sich immer nur um sich gekümmert, um seinen eigenen Vorteil. Irgendwann hatte ihm lediglich jemand einen Haufen Geld geboten, damit er einen anderen Menschen beseitigte – wahrscheinlich war das das Ventil, um all das Böse herauszulassen. Nein wirklich, in der Sekunde, als er das erste Mal einem anderen Mann, der bewusstlos am Boden lag, aus zwei Meter Entfernung eine Kugel durch den Kopf jagte, als er sich das erste Mal in seinem Leben richtig gehen ließ, sich selbst in eine Ausnahmesituation brachte und sich das erste Mal von allen gesellschaftlichen Konventionen (wie sie in normalen Situationen galten) löste – da wusste er, dass er die Essenz seines Menschseins erkannt hatte. In diesem extremen Moment konnte er nicht mehr leugnen, wie viel Böses er tief in sich trug. Die Frage war für ihn seit dieser Nacht also nicht mehr gewesen, wie die Menschen sich nach ihrer Geburt zum Bösen entwickelten, so wie bei dem alten Philosophen, nein, die Frage lautete nun für ihn, wie die Menschen es in ihrem Alltag anstellten, das Böse versteckt zu halten. In der sizilianischen Geschichte

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