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ein Begriff, den die leider längst verstorbene großartige österreichische Schriftstellerin Elfriede Gerstl einst für ihre Freunde geprägt hatte.

      Am späten Vormittag, als der Trubel am Naschmarkt am schlimmsten war, brach Isabella zu ihrer Einkaufstour auf. Sie kaufte und bezahlte brav die Zitronen, Paradeiser und ein Basilikumstöckl bei einem Obst- und Gemüsestand. Die Delikatessen in den sauteuren Läden ließ sie einfach in den tiefen Taschen ihres langen Wintermantels verschwinden. Sie wusste nicht genau, was sie eingesteckt hatte, da sie ihre Lesebrille zuhause vergessen hatte. Aber all die Gläser mit Gänseleber, Entenpastete, Wachteleiern oder Trüffeln sahen gleich appetitlich aus.

      Alte Frauen sind unsichtbar. Auf dieses Klischee war Verlass. Keine der jungen, schicken Verkäuferinnen hatte ihr auch nur die geringste Beachtung geschenkt, als sie diese Köstlichkeiten mitgehen ließ.

      Mehr Schwierigkeiten bereitete ihr die kostenlose Beschaffung von Lachs. Lachs musste leider sein, gehörte zu den Lieblingsfischen ihrer Freundin Birgit, genannt Brigit, nach Brigitte Bardot, der sie in Jugendjahren ein bisschen ähnlich gesehen hatte.

      Sollte sie einfach ein großes Stück Lachs aus dem Bett von Eis zerren und in ihre Einkaufstasche werfen? Bei dem Gedanken musste sie lachen. All die gut gekleideten, reichen jungen Leute, die sich um den besten Fischstand am Naschmarkt drängelten, würden ganz schön blöd dreinschauen, dachte sie. Leider konnte sie nicht mehr schnell genug laufen, sonst hätte sie das glatt getan.

      Sie wechselte zu einem anderen Fischstand. Hier tummelten sich die weniger Erfolgreichen, Bobos mit Kinderwägen, junge Schnösel mit Sektglas in der Hand und einige intelligenter aussehende Menschen, die halt auch ein Stückchen Fisch für den Heiligen Abend kaufen wollten.

      Am Ende der langen Theke erblickte sie eingeschweißten Lachs, einen richtig großen Haufen Räucherlachs. Keiner schien sich dafür zu interessieren. Jeder wollte frischen Fisch. Wieder verjüngte ein Lächeln ihr Gesicht. Frischer Fisch in Wien? Aus dem Donaukanal vielleicht? Mein Gott, sind die Leute blöd! Und schon hatte sie sich eine 250-Gramm-Packung hygienisch verpackten norwegischen Räucherlachs geangelt und in ihrer Tasche verschwinden lassen. Keiner hatte sie gesehen, keiner hatte es bemerkt.

      Beschwingt begab sie sich in eine eher ungustiöse Supermarkt-Filiale in der Nähe des Naschmarkts und ließ dort die restlichen Sachen wie Oberskren, Dillsenfsauce und Ersatzkaviar mitgehen, bezahlte nur das Klopapier und den Mozzarella im Sonderangebot.

      Zur Feier des Tages nahm sie die U4, obwohl es nur eine Station bis zur Pilgrambrücke war. Doch die vielen Delikatessengläser, die Zitronen, Paradeiser, das Basilikumstöckl und der Lachs in ihrer Tasche hingen sich ordentlich an.

      In der Pilgramgasse hatte einer der besten Bäcker Wiens eine Filiale. Zur Feier des Tages kaufte sie köstliches Brot zu Apothekerpreisen. Schließlich hatte sie bisher nicht viel ausgegeben.

      Bei der Busstation vor der Bäckerei lungerten kaputte Typen herum. Sie kannte den einen oder anderen vom Sehen. Ihr Freund Philip hatte früher sein Anwaltsbüro im Hochparterre des Nachbarhauses. Heute wohnte er in seinem ehemaligen Büro. Nicht selten hatten Philip und sie sich nächtens in einem dieser schäbigen kleinen Läden mit Bier und Wein versorgt.

      Ihr Freund war fünf Jahre älter als sie. Er bezeichnete sich selbst als Winkeladvokaten, seit er aus der Anwaltskammer ausgeschlossen worden war. Seit kurzem war Philip auf einem Auge fast blind.

      Er sah dem berühmten Schauspieler Humphrey Bogart ein bisschen ähnlich, hatte ebenso kantige Gesichtszüge und ein ebenso schiefes Lächeln. Außerdem trug er fast immer einen Hut. Allerdings war er mindestens einen Kopf größer als die Schauspielerlegende.

      Philip behauptete oft, er fühle sich hier im Fünften wie im New York der späten 1970er-Jahre. Nach Beendigung seines Studiums hatte er ein paar Monate in der Stadt, die niemals schläft, verbracht und war anscheinend in der damals noch schäbigen Lower East Side in solch abgefuckten Bars und Läden wie hier herumgehangen.

      Sie überlegte, auf einen Kaffee bei ihm vorbeizuschauen und sich ein bisschen Geld von ihm zu borgen. Ein Blick auf ihre Uhr ließ sie von diesem Plan Abstand nehmen.

      Jetzt auch noch mit dem schweren Brot bepackt, schlurfte sie wieder hinüber zur U-Bahn-Station Pilgramgasse.

      Sie war pünktlich. Ihr junger Dealer verspätete sich. Während sie überlegte, wie sie ihn überreden könnte, ihr den Stoff auf Pump zu geben, schnorrte sie ein Junkie an. Sie gab ihm einen Euro. Mehr hatte sie nicht dabei. Der Typ spuckte vor ihr aus.

      Plötzlich tauchte Caspar aus dem Untergrund auf. Der Junkie machte sich rasch aus dem Staub. Wahrscheinlich hatte er Schulden bei dem Dealer.

      Caspar schüttelte ihr freundlich die Hand. »Frohe Weihnachten«, sagte er grinsend. Er war Katholik und nach einem der Heiligen Drei Könige genannt worden, hatte er ihr einmal erzählt.

      Kurzerhand lud sie auch ihn für heute Abend ein. Er solle den Stoff sozusagen ins Haus liefern. Sie versprach, bis dahin das Geld aufzutreiben. Wie so oft, verließ sie sich auf ihre beiden Freunde. Obwohl Philip ziemlich heruntergekommen war, schien er für Alkohol und Shit immer genügend Geld zu haben. Und ihre Freundin Brigit bezog als ehemalige Lehrerin an einem Gymnasium sowieso eine gute Pension.

      Ihr Dealer ließ sich auf diese ungewöhnliche Verabredung ein. Sie kannten einander schon seit drei Jahren. Bisher hatte Isabella immer gleich bezahlt. Als sie ihm ihre Adresse nannte, winkte er ab. Er schien zu wissen, wo sie wohnte.

      Als Isabella ihre Einkäufe im Kühlschrank verstaute, klingelte das Handy.

      Brigit – wer sonst?

      Ihre Jugendfreundin war eine Nervensäge, eine Besserwisserin und Dauerrednerin. Oft rief sie sechs Mal am Tag an. Andererseits konnte sie auch sehr lieb sein. Sie half Isabella schon seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, immer wieder finanziell aus der Patsche.

      Brigit wohnte nicht weit von ihr, hatte eine hübsche Gemeindebauwohnung mit Balkon im Einstein-Hof. Die ehemalige Frau Professor war immer noch vollbusig und blond. Acht Jahre lang hatte sie mit Isabella das Gymnasium in der Rahlgasse besucht, war ihre Banknachbarin gewesen. Nach der Matura hatte Brigit studiert und war dann Lehrerin an ihrem ehemaligen Gymnasium geworden, hatte Mathematik und Musik unterrichtet. Irgendwann hatte sie einen Lehrerkollegen geheiratet. Mittlerweile war sie schon ewig lange geschieden. Während ihrer Ehe hatten die beiden Schulfreundinnen keinen Kontakt miteinander gehabt. Erst als sich Brigit nach ihrer Scheidung in Bars herumtrieb, immer auf der Suche nach einem neuen Mann, hatten sie sich eines Nachts in einer Spelunke in der Nähe des Naschmarkts wiedergesehen und sich seither nicht mehr aus den Augen verloren.

      Brigit war nicht kleinlich. Sie wusste, dass sie das Geld, das sie ihrer Freundin borgte, nie wiedersehen würde. Manchmal erbte Isabella auch schicke Sachen von ihr, obwohl Brigit etwas aus dem Leim gegangen war. Sie waren etwa gleich groß, aber Brigit war mindestens fünfzehn oder sogar zwanzig Kilo schwerer. Isabella sah in den Klamotten ihrer Freundin aus wie ein Kleiderständer, an dem alles flatternd herunterhing. Brigits Pullover waren Minikleider für sie.

      Isabella rief ihre Freundin zurück. Schließlich musste sie Brigit heute bei Laune halten.

      Nachdem sie sich zum hundertsten Mal angehört hatte, wie rücksichtslos und unverschämt Brigits neue Nachbarn waren – alle mit Migrationshintergrund natürlich –, wollte sie schon auflegen, doch nun begann ihre Freundin zu heulen. Sie halte das Alleinsein nicht mehr aus, sie komme mit dem Altwerden nicht zurecht, könne nicht schlafen, sie wolle so nicht mehr weitermachen, denke andauernd an Selbstmord …

      Isabella hörte ihr nicht mehr zu, legte das Handy auf den Tisch, drückte auf die Lautsprechertaste und las inzwischen die Gratiszeitung, die sie sich von einem Ständer bei der U-Bahn-Station mitgenommen hatte. Von Lesen konnte eigentlich nicht die Rede sein. Es gab nur riesige Schlagzeilen und viele Bildchen: Kopftuchverbot für Kindergartenkinder, Einreiseverbot für Krieger aus dem wilden Kurdistan …

      Inzwischen war es fast sechzehn Uhr. Isabella wagte es, den Wortschwall ihrer Freundin

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