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geht als Erster hinaus, um den Wagen aufzuschließen. Es hat aufgehört zu regnen, aber es bläst noch ein sehr starker Wind. Als er die Tür geöffnet hat, gibt er Clarissa ein Zeichen. Diese zieht rasch die Haustür hinter sich zu und steigt in den Wagen. Heiko setzt sich ans Steuer und fährt los.

      „Ach, Heiko, endlich kann ich mit dir allein sprechen!“ Clarissa atmet erleichtert auf und rückt ganz nahe an den Deichkater heran.

      Nachdem sie um die Ecke gefahren sind, hält Heiko den Wagen an und sieht seine Frau fragend an. „Was ist los, Clarissa? Du bist ja ganz aus dem Häuschen. Seit dem Tag unserer Hochzeit habe ich dich nicht mehr derart aufgeregt gesehen. Was ist denn passiert?“

      Clarissa erzählt Heiko, wie sie Silke in seinem Arbeitszimmer beim Auflisten seiner Bücher überrascht hat.

      Heiko schmunzelt und versucht sie zu beruhigen. „Aber, aber, mein Schatz. Das ist doch alles nicht so schlimm. Wer weiß, was sie überhaupt damit anfangen will.“

      „Das ist noch nicht alles. Heute haben zwei Gestapomänner Friedrich Winkler verhaftet. Und zwar wegen eines Kommentars, den er im Courier über das Blutschutzgesetz geschrieben haben soll. Er wurde von Ortsgruppenleiter Straßner in Berlin bei Dr. Goebbels denunziert. Erinnerst du dich noch? Dieser widerliche Straßner, der sich damals bei meinem Rektor in der Schule beschwerte, dass sein Sohn in meiner Klasse neben dem Judenbub Moses Kovacs sitzen musste.“

      „Und was soll das mit meinen Büchern zu tun haben? Überhaupt, von wem hast du dies alles?“

      „Der Papa war heute bei uns und erzählte, dass die beiden Gestapoleute Friedrich Winklers Bibliothek durchgesehen und dabei mehrere Bücher beschlagnahmt haben, die sie als volksverräterisch bezeichneten. Sie haben ihn übrigens auch noch brutal zusammengeschlagen, bevor sie ihn abführten. Oh, Heiko! Auch du hast so viele Bücher über Kommunismus und Politik, die heute so gefährlich sind. Und ich bin sicher, dass Silke gerade diese aufgelistet hat. Verstehst du? Ich habe eine solche Angst!“

      „Nun beruhige dich erst einmal, Clarissa.“ Heiko umarmt seine Frau, die jetzt ihren Tränen freien Lauf lässt. Er küsst sie zärtlich und drückt sie fest an sich.

      Währenddessen denkt Heiko fieberhaft nach. Wer oder was könnte hinter Silkes Tat stecken? Sie selbst? Nein. Unwahrscheinlich. Plötzlich kommt ihm ein Gedanke: BDM! Versammlung beim Bund Deutscher Mädchen. Dort tummeln sich wahrscheinlich auch die älteren Parteigenossen. Vielleicht sogar der feine Herr Ortsgruppenleiter Straßner persönlich. Könnte nicht vielleicht dieser ...? Andererseits, welches Interesse hätte dieser Herr Straßner an mir – Heiko Keller? Moment mal, hat er mich nicht schon mehrmals aufgefordert, der NSDAP beizutreten? Sollte es deswegen sein? Auch nicht sehr wahrscheinlich. Warum nur, verdammt noch mal, warum nur?

      Clarissa hat aufgehört zu weinen. Mit einem Taschentuch wischt ihr Heiko sorgfältig die Tränen aus dem Gesicht.

      „Nun, Prinzessin der madigen Erbse, bemühen Sie sich einmal gütigst, Ihrem Erretter ein strahlendes Lächeln zu schenken. Sehen Sie, so ist es schon viel besser!“ Als Anerkennung erhält Clarissa einen Kuss auf die Nase.

      „Übrigens, noch etwas, Heiko, aber dieses Mal wenigstens etwas Lustiges!“

      „Was denn?“, fragt Heiko neugierig.

      „Gesche und Gesine waren heute auch zu Besuch bei uns. Es hat die beiden einfach so zu uns getrieben. Wir haben uns sehr freundschaftlich unterhalten. Als ich ihnen von Rollo und Heide erzählte und erwähnte, dass die Familie Claaßen uns am zweiten Weihnachtstag besuchen wird, da kam mir eine Idee. Oh, Deichkater, ich hoffe, dass du deswegen nicht böse bist!“

      „Es wird schon nicht so schlimm sein, also erzähl!“

      „Ich habe auch Gesche und Gesine für den zweiten Weihnachtstag zum Mittagessen eingeladen. Ich dachte, wir machen daraus ein Treffen mit der ganzen Bande. Was sagst du dazu?“

      Heiko lächelt sie amüsiert an.

      „Prinzessin, das war mal wieder einer deiner lieben, wunderbaren Einfälle. Ich finde die Idee sehr gut. Morgen werde ich auch Josef dazu einladen.“ Nach einer Pause fügt er hinzu: „Schön, die ganze Bagage mal wieder zusammenzuhaben! Prima Idee! Hast dir noch einen Nasenkuss verdient.“

      Als er Clarissa ihre Prämie überreicht hat, lässt Heiko den Motor wieder an und sie fahren durch die menschenleeren Straßen Oldenmoors, bis sie am Herrenhaus angelangt sind. Unterdessen berichtet Clarissa dem Deichkater ausführlich von ihrer Unterhaltung mit den Zwillingen.

      Kathrein öffnet ihnen die Haustür.

      „Guten Abend, Frau Clarissa. Guten Abend, Herr Heiko. Schön, Sie wiederzusehen“, grüßt sie freundlich lächelnd. „Einen schönen guten Abend, Kathrein, wie geht es dir?“ Clarissa und Heiko geben Kathrein die Hand und betreten das Herrenhaus.

      * * *

      Nach dem Tod von Lenchen, dem treuen Faktotum der von Steinbergs, die bereits bei Clarissas Großvater im Dienst der Familie gestanden hatte, war Kathrein das Kommando über die Küche des Herrenhauses übertragen worden. Geflissentlich erledigt sie die Pflichten eines Hausmädchens, da jetzt nur noch drei Personen in diesem Haushalt zu versorgen sind.

      Neben Hans-Peter und Frau Annette wohnt Johann von Steinberg, Hans-Peters Bruder, im Herrenhaus. Ewald, der dritte Bruder, ist nach seinem vormaligen Aufenthalt im Sanatorium in Schleswig nicht mehr nach Oldenmoor zurückgekehrt. Er hat bei der dortigen Forstverwaltung eine gute Stelle gefunden und fühlt sich glücklich und zufrieden inmitten seiner Wälder.

      Tante Alexandra, Schwester des alten Oliver von Steinberg und Heikos Großmama, die diesen nach dem tragischen Tode seiner Mutter aufgezogen hatte, starb wenige Tage nach der Hochzeit von Clarissa und Heiko. Frau Annette meinte damals, Tante Alexandra habe sich nur deshalb so lange am Leben gehalten, um ihren über alles geliebten Heiko glücklich und in gesicherten Verhältnissen zu wissen. Tante Therese und ihr langjähriger Verlobter, Hein Piepenbrink, heirateten endlich, als Hein schließlich die ihm lange versprochene Gehaltserhöhung bei der Lederfabrik Christiansen erhielt. Er vermochte sowohl dem beständigen Drängen seiner Braut als auch den eindringlichen Vorhaltungen Hans-Peters, endlich die längst fällige Ehe einzugehen, nicht länger zu widerstehen.

      Nachdem auch Tante Therese ausgezogen war, herrschte eine große Ruhe im Herrenhaus. Eine viel zu große Ruhe, wie Hans-Peter sich selbst häufiger eingestehen musste. Ach, was waren es herrliche Zeiten, damals ...

      Nachdem er – zu der Zeit wider Willen, weiß Gott! – der Verlobung Clarissas mit Heiko zugestimmt hatte, traf es ihn wie ein Schlag, auch noch erfahren zu müssen, dass Heiko die auf das Herrenhaus lastende Hypothek von den Rembowskis erworben hatte und er jetzt sozusagen der Mieter seines zukünftigen Schwiegersohnes war. Na ja, „Mieter“ war nicht der richtige Ausdruck, denn von welchem Geld hätte Hans-Peter seine Miete bezahlen sollen?

      Hans-Peter von Steinberg war stets ein sehr traditionsbewusster Mann. Er lebte deshalb früher in dem festen Glauben, dass man es seiner Familie schuldig war, diese ohne Gegenleistung zu erhalten. Es stünde doch der Familie von Steinberg selbstverständlich zu! Waren sie nicht früher Herren über fast das gesamte Oldenmoor? War nicht sein Vater, der ehrenwerte und von allen respektierte Oberst Oliver von Steinberg, ein sehr wohlhabender Mann, der all denjenigen zu Hilfe kam, die sie benötigten? Jetzt, wo Hans-Peter und seine Familie einer derartigen Hilfe bedürften, sei es doch nicht zu viel verlangt, diesen Anspruch wiederum an jene zu stellen, denen man früher so großzügig geholfen habe. Nach und nach musste aber Hans-Peter die bittere Erfahrung machen, dass ihm niemand für das früher Gehabte etwas herausrückte.

      Diese Erkenntnis vertrieb nur allmählich die Nebelschwaden der Großherrlichkeit aus Hans-Peters Gehirn. In seinen Gedanken erdachte er sehr oft – ja man könnte sogar sagen: täglich – ertragreiche Geschäfte oder wichtige Aufgaben. In die Tat setzte er allerdings nichts davon um. Erst an jenem Tage, an dem er mit der bitteren Realität konfrontiert wurde, dass er von nun an ein Mieter im eigenen Hause sei und darüber hinaus diese Miete nicht einmal bezahlen könne, wuchs sein gekränkter Stolz über seine bisherige Trägheit und Indifferenz hinaus.

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