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auf den Weg zu Frau Winkler, um Näheres zu erfahren. Viel soll dabei nicht herausgekommen sein. Nur dass man seine Papiere durchwühlt und verschiedene Bücher aus seiner Bibliothek konfisziert habe – mit der Bemerkung, es handele sich bei diesen um staatsfeindliche Werke. Als Winkler von den beiden Männern Aufklärung über den Grund seiner Verhaftung erbat, schlugen sie ihn brutal zusammen. Der eine brüllte: ‚Das wirst du noch früh genug erfahren, du verräterische Sau!‘ Und der Frau riet man, unbedingt zu schweigen, wenn ihr daran gelegen sei, ihren Mann wiederzusehen. Was sind das bloß für Zeiten, mein Gott!“

      „Und was ist danach geschehen?“, murmelt Frau Annette sehr leise, ergriffen von der Schilderung ihres Gatten. Sie ist eine gutmütig anmutende, vollschlanke Frauengestalt und mit jener klassischen Schönheit gesegnet, der das wahre Alter kaum anzusehen ist.

      Hans-Peter setzt sich in den Sessel am großen Eichentisch und erzählt: „Dr. Looft rief bei der hiesigen Polizei an. Zunächst tat man so, als ob man von der ganzen Angelegenheit nichts wisse. Als er später mit einem der Polizisten unter vier Augen sprach, gab dieser zu, etwas gehört zu haben – ganz inoffiziell, versteht sich. Ortsgruppenleiter Straßner hatte sich an einem Kommentar Winklers zu den Rassengesetzen im Courier gestoßen und sich daraufhin schriftlich an das Reichspropagandaministerium gerichtet, um bei Dr. Goebbels persönlich Beschwerde gegen Winkler einzulegen. Wahrscheinlich haben sie ihn deswegen abgeholt. Der Courier musste vorübergehend sein Erscheinen einstellen.“

      Hans-Peter macht eine Pause. Er sieht seine Frau mit feuchten Augen an.

      „Annette, ich beginne zu ahnen, dass ich – nein, wir alle – einen schwerwiegenden Denkfehler begangen habe, für den wir noch bitter bezahlen werden. Ich gebe zu, ich habe damals den Tag herbeigesehnt, an dem hier jemand an die Regierung kommt, der endlich wieder einmal für Recht und Ordnung sorgt, der jenem widerlichen und sinnlosen politischen Hin-und-her-Gerangel der Weimarer Republik ein Ende setzt. Ja, ich gebe auch zu, dass ich damals in Adolf Hitler jenen Mann sah, der dies schaffen könnte, und dass ich deswegen bei jeder Wahl meine Stimme für ihn abgegeben habe.“

      Nach einer kurzen Denkpause fährt Hans-Peter fort: „Ich erinnere mich an die wütende Diskussion, die Heiko und ich am Tage der Machtergreifung führten, weil er mein Handeln wahnsinnig und verantwortungslos nannte. Heute muss ich kleinlaut zugeben, dass Heiko wahrscheinlich recht hatte. Er hat damals so ziemlich genau das vorausgesagt, was wir alle heute erdulden müssen: die totale und gnadenlose Unterwerfung eines jeden Menschen. Der Preis, der uns für solch eine Friedhofsordnung und für dieses Unrecht einmal in Rechnung gestellt werden wird, wird ungeheuerlich sein. Und das Schlimmste ist – und auch da muss ich Heiko heute recht geben –, dass kaum jemand gemerkt hat, wie ahnungslos das deutsche Volk in sein düsteres Schicksal hineingeschlittert ist. Da stehen sie bei jeder Gelegenheit und jubeln fanatisch jenen zu, die sie ins Verderben führen. Am Anfang habe auch ich mitgejubelt. Heute ist mir das Jubeln gründlich vergangen und mir wird jedes Mal schlecht, wenn diese Massenhysterie ausbricht. Die Wenigen, die noch klar denken und die bittere Wahrheit durchschauen und noch dazu den Mut aufbringen, laut zu warnen, werden als Volksschädlinge erbarmungslos beseitigt. Nach der damaligen Auseinandersetzung mit Heiko habe ich mir die Mühe gemacht, Hitlers ‚Mein Kampf‘ sehr aufmerksam zu lesen. Wenn der das alles in die Tat umsetzt, was er sich vorgenommen und darin niedergeschrieben hat, dann gnade uns Gott!“

      „Konnte denn Dr. Looft nichts ausrichten?“, fragt Frau Annette ihren Mann.

      „Detlef Bartels sagte mir, er habe gehört, wie Dr. Looft zunächst mit der Reichsanwaltskammer in Berlin telefoniert habe, um sich beraten zu lassen. Annette, begreif doch, hier hat jeder Angst, es herrscht der reinste Terror! Wenn irgendjemand etwas Falsches tut oder sagt, blüht ihm das Gleiche. Auch wir müssen jetzt verdammt vorsichtig sein!“

      Pause.

      „Nein. Kurzum: Dr. Looft kann für Friedrich Winkler so gut wie nichts tun. Es heißt, er befände sich in Schutzhaft. Die deutsche Volksgemeinschaft sei vor diesen Volksschädlingen zu schützen. Dies hat man ihm klipp und klar aus Berlin mitgeteilt. Ein solcher Fall bewege sich zunächst ‚außerhalb des Rechtsweges‘. Erst wenn Anklage erhoben werden sollte, hätte der Angeklagte ein Recht auf Verteidigung. Davor stünde ihm keinerlei Rechtsbeistand zu.“

      „Und was wird jetzt aus der armen Frau Winkler? Können wir ihr nicht irgendwie helfen?“

      „Um Gottes willen, Weib, halt an dich! Habe ich nicht soeben gesagt, dass wir von nun an sehr vorsichtig sein müssen?“

      „Aber Hans-Peter, mach dich doch nicht lächerlich! Es wird wohl noch erlaubt sein, einer alleinstehenden Frau behilflich zu sein!“

      „Du verkennst die Lage, meine Liebe. Nicht wenn diese Frau die Ehefrau eines Mannes ist, der unter schwerstem Verdacht steht, ein schlimmes Vergehen gegen diesen Staat begangen zu haben.“

      Hilflos stützt Hans-Peter seinen Kopf mit beiden Händen. „Du hast recht, Annette. Sieh dir nur an, auch ich bin schon in Schweiß gebadet, nur bei dem bloßen Gedanken, dieser armen Frau beistehen zu wollen. Aber wir müssen äußerst vorsichtig sein, es hat wirklich keinen Sinn, sich unnötig in Gefahr zu bringen.“

      Frau Annette nickt zustimmend.

      „Wir müssen unbedingt mit Clarissa sprechen. Sie muss ernsthaft mit Heiko reden. Dieser Trotzkopf wird sich mit seinen offenen Meinungsäußerungen noch fürchterlich den Schnabel verbrennen. Wenn er schon nicht an sich denkt, so muss er es wenigstens für seine Frau und seine Kinder tun.“

      „Ja, Annette, stimmt. Ich hatte auch schon daran gedacht. Und ich tue es noch heute, ohne Aufschub. Morgen könnte es schon zu spät sein. Wie bei diesem bedauernswerten Friedrich Winkler.“

      * * *

      Die beiden jungen Frauen gehen schweigend nebeneinander her. Die eine ist ganz in Schwarz gekleidet und trägt einen großen Asternstrauß in der Hand. Die Begleiterin, deren Gesicht der schwarz gekleideten Frau zum Verwechseln ähnlich sieht, trägt ebenfalls dunkle Kleidung. Am Friedhof angelangt, öffnet diese das eiserne Tor, über dessen Bogen die Inschrift ‚Ehre den Helden des Vaterlandes‘ ins Auge fällt, und lässt der Schwester den Vortritt.

      „Geh du voraus, Gesche.“

      Die beiden Frauen gehen wortlos an den zahlreichen Gräbern vorüber, bis sie an ihrem Ziel angelangt sind: das durch eine grüne Hecke eingefriedete Familiengrab der Carstens. Dort befindet sich ein mächtiger, geschliffener, schwarzer Marmorstein, auf dem zu lesen ist:

      Siegfried Thode

       * 30. Januar 1908

       † 11. September 1932

      Gesche Thode legt den mitgebrachten Blumenstrauß auf die schwarze Grabplatte. Tränen überströmen das rundliche Gesicht mit den geröteten Wangen und der kleinen, knolligen Nase.

      Zwillingsschwester Gesine nimmt sie liebevoll in ihre Arme und versucht sie zu trösten, indem sie ihr zärtlich über das Haar streicht.

      „Wwwwwarum mmmmussste denn ausggggerechnet Ssssiegfried stststerben?“, stottert Gesche mit verzweifelter Stimme. „Er wwwar sssso gut zzzu mmmmmir, ich ffffinde dddoch nnnnnie wwwwieder s... sss...“

      „Beruhige dich doch, Gesche. Ganz ruhig, meine Liebe, ganz ruhig.“ Während Gesine versucht, ihre Schwester zu trösten, laufen vor ihren Augen die Ereignisse aus dem Jahre 1932 wie ein Film ab.

      Gesche Carstens und Siegfried Thode hatten sich 1930 während eines Sommerurlaubs in Saßnitz auf der Insel Rügen kennengelernt. Siegfried stammte von einem Bauernhof in Dithmarschen und war der jüngste Sohn der Familie Thode. Da Gesches früh verwitwete Mutter, die Witwe Carstens, in der Nähe Oldenmoors ein großes Gut, den Uhlenhof, besaß und zudem keine männliche Nachkommenschaft hatte, war die Familie über diese Freundschaft und die daraus entstandene Verlobung hocherfreut. Gesche und Siegfried heirateten kurz nach der Bekanntgabe der Verlobung von Heiko und Clarissa – Gesches und Gesines enge Freunde aus der Kindheit. Clarissa und Rollo, der ebenfalls einer der Spielgefährten und damals schon Gefreiter des Heeres gewesen war, waren die Trauzeugen. Drei Tage lang feierten über zweihundert Gäste und Familienangehörige auf dem Uhlenhof die Vermählung

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