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Einige Tage (genauer gesagt: vier!) sind seit jenem wunderbaren Abend verstrichen, an dem ich endlich die innere Kraft aufbrachte, meine Hemmungen zu überwinden und meinen Empfindungen freien Lauf zu lassen. Als ich Heiko entgegenlief, er mich in seine Arme nahm und seine Lippen die meinen zärtlich berührten, brannte es auf meinem Mund wie Feuer und mein Herz pochte so wild, dass ich dachte, es würde mir aus der Brust springen.

       Wenn ich das soeben Geschriebene lese, finde ich es ganz schön albern. Aber es fallen mir einfach keine schöneren Worte ein, um es zu beschreiben. Jetzt, wo ich dieser Seite das größte und wichtigste Geheimnis meines Lebens anvertraut habe, muss ich mehr denn je darauf achten, dieses Tagebuch immer gut unter Verschluss zu halten. Am sichersten, ich verstecke es im Geheimfach meines Schreibtisches. Dort wird es mit Bestimmtheit niemand finden!

       Ich habe jetzt ziemliche Angst vor der Zukunft. Mit Sicherheit wird meine Familie sehr erbost sein, sollte sie von unserer Liebe erfahren. Der Papa wird vor Wut schäumen: Seine Tochter und der Tunichtgut von Heiko? Undenkbar! Der ist doch keine Partie für ein Fräulein von Steinberg. Dass diese Welt immer Wermutstropfen in das Glück einträufeln muss!

      Bewegt blättert Clarissa weiter.

       Heute herrscht bei uns wieder eine bedrückte Stimmung. Die Hypothek für das Herrenhaus ist in zwei Wochen fällig und der Papa teilte uns beim Mittagessen mit, dass er kein Geld habe, um sie abzulösen. Als er damals das Geld aufnahm, um Onkel Ewalds Kur im Sanatorium in Schleswig zu bezahlen, hatte er sich vorgenommen, mit dem Rest des Betrages ein Geschäft zu eröffnen. Auch diesmal blieb es leider beim Vorsatz, ohne dass er etwas unternahm. So zerrannen Zeit und Geld. Nachdem Heiko in Onkel Suhls Haus umgezogen ist und uns keine Miete mehr bezahlt, ist mein kleines Gehalt als Lehrerin die einzige Einkommensquelle, die dazu beiträgt, wenigstens einen Teil des Haushalts zu bestreiten. Es ist so deprimierend, dass weder der Papa noch Onkel Johann bereit sind, etwas für den Unterhalt der Familie zu tun. Auch Tante Therese, Mamas Schwester, lebt immer noch bei uns, da ihr Verlobter, Hein Piepenbrink, nicht genügend Geld verdient, um sie zu heiraten. Wie soll das nur weitergehen? Ich weiß es wirklich nicht! Wenn es dem Papa nicht gelingen sollte, irgendwie doch noch das Geld zu beschaffen, dann werden wir wohl ausziehen müssen. Wie auch bei den anderen Häusern werden die Rembowskis, von denen wir das Geld geliehen haben, darauf bestehen, dass wir das Herrenhaus räumen. Sie wollen es sicher für die Erweiterung ihrer Backwarenfabrik verwenden. Ich mache mir große Sorgen um unsere Zukunft.

       Es ist etwas Unglaubliches passiert. Als heute der Papa zu den Rembowskis ging, um wegen einer Verlängerung der Hypothek vorzusprechen, sagten sie ihm, dass sie diese Forderung an jemand anderen abgetreten hätten. Der Papa konnte aber den Namen des neuen Gläubigers nicht erfahren, da dieser ausdrücklich zur Bedingung gemacht habe, dass sein Name nicht genannt werde. Niemand kann sich dies erklären. Wer und was steckt dahinter?

       Heiko und ich treffen uns jetzt fast täglich im Café Petersen am Markt. Als ich ihm heute Abend davon erzählte, sah er mich sehr amüsiert an und sagte, ich solle mir nur keine Sorgen machen, es werde mit Sicherheit eine gute Lösung für dieses Problem geben. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie wir aus dieser Klemme herauskommen sollen und woher der Deichkater seinen Optimismus nimmt. Er hat sich inzwischen bei der Bäckerei Rembowski sehr rasch hochgearbeitet. Der alte Herr Rembowski hat ihn in der letzten Woche neben seinem Sohn Josef (ich muss mich jetzt immer zusammennehmen, damit ich Josef nicht mehr „Klumpfuß“ nenne, wie früher, in meiner Kindheit) zum gleichberechtigten Geschäftsführer ernannt und ihm eine entsprechende Gehaltsaufbesserung gegeben.

       Nach unserem heutigen Treffen begleitete mich Heiko nach Hause. Als wir an der Haustür standen, nahm er mich zärtlich in seine Arme und küsste mich. Danach sah er mir tief in die Augen und fragte mich, ob ich seine Frau werden wolle. Ich empfand ein solch großes Glück, dass ich augenblicklich alle diese Sorgen vergaß. Ja, auch ich möchte so sehr den Deichkater heiraten. Aber jetzt, wo mein Herz noch vor lauter Aufregung bis zum Hals hinauf wild schlägt, überlege ich, wie schwierig doch alles für uns sein wird. Trotz der wiederholten Versuche, die ich bisher unternommen habe, um die Familie umzustimmen, meinen vor allem der Papa und Onkel Johann, dass der Deichkater das schwarze Schaf der Familie ist und bleibt. Als die Mama neulich versuchte, den Papa davon zu überzeugen, dass Heiko sich grundlegend geändert und jetzt eine sehr gute Stellung habe, wo er viel verdiene, brach zwischen den beiden ein großer Streit aus. Der Papa wurde sehr wütend und ging laut schimpfend aus dem Esszimmer. Werden Heiko und ich je seine Einwilligung zu unserer Hochzeit bekommen? So sehr ich mir dies wünsche, kann ich es kaum glauben.

      Clarissa schließt dieses Tagebuch und greift zum nächsten Band. Langsam blättert sie darin. Schließlich findet sie die gesuchte Stelle:

       Ich glaube, dass mein Leben sich zurzeit wie in einem Roman abspielt. Anders kann ich alles, was heute passiert ist, nicht beschreiben. Heute gab es eine riesige Aufregung in unserem Hause. Es war der Fälligkeitstag der Hypothek. Der Papa war äußerst gereizt und nervös. Niemand wusste, was auf uns zukommen würde. Als die Türklingel läutete, während wir bei der Nachspeise waren, horchten alle auf und richteten automatisch ihre Blicke auf den Papa. Kathrein, unser einziges Hausmädchen, seit das Lenchen vor drei Monaten verstarb, öffnete die Tür und kam mit eigenartig verkniffenem Gesicht ins Esszimmer, um zu melden, dass ein Herr, der seinen Namen nicht genannt haben wolle, um ein persönliches und vertrauliches Gespräch mit Herrn Hans-Peter von Steinberg ersuche.

       Der Papa sprang erregt auf, befahl Kathrein, die Tür zwischen Esszimmer und Salon zu schließen und den Herrn in Letzteren zu führen. Danach strich er nervös mit seiner Hand durch die Haare und ging ein paar Schritte auf und ab. Schließlich sah er jeden von uns an, zuckte mit den Schultern und eilte hinüber in den Salon. Wegen der verschlossenen Tür konnten wir den Besucher nicht erspähen.

       Schweigend saßen wir alle wie auf Kohlen am Esstisch, bemüht, irgendein Geräusch aus dem Nebenzimmer zu hören. Mit einem Mal konnten wir die laute Stimme des Papas ausmachen, allerdings ohne seine Worte zu verstehen. Danach wurde es wieder ruhig und wir konnten nichts mehr vernehmen, bis plötzlich die Tür aufging und der Papa mit blassem Gesicht hereintrat. Mit einem eigenartigen Blick musterte er zunächst mich, dann die Mama. „Annette und auch Du, Clarissa, kommt bitte herein!“, bat er mit heiserer Stimme.

       Liebes Tagebuch, mit welchen Worten soll ich meine Empfindungen niederschreiben? Als ich sah, wer der Besucher war, blieb ich wie angewurzelt stehen und mein ganzes Blut muss augenblicklich in mein Gesicht geschossen sein, denn ich empfand darin eine brennende Hitze! Vor mir stand niemand anderer als Heiko, in einen sehr eleganten, schwarzen Anzug gekleidet, der mich breit lächelnd anstrahlte und mir mit einem Auge zuzwinkerte.

       Der Papa legte mir beide Arme auf die Schultern und drehte mich zu sich herüber. Er hob langsam mein auf den Boden gesenktes Gesicht mit einem Finger hoch, bis ich ihm in die Augen sehen musste. Danach sagte er mit bewegter Stimme: „Dieser Herr hier hat behauptet, dass Ihr beide Euch liebt, und er hat auch noch um Deine Hand angehalten. Was hast Du mir dazu zu sagen?“

      Ich musste meinen gesamten Mut aufbringen, um dem Papa meine volle Erwiderung von Heikos Gefühlen zu beichten und ihm zu gestehen, dass für mich eine Heirat mit Heiko das größte Glück auf Erden bedeuten würde. Als dann der Papa die Mama ansah und sie um ihre Meinung bat, fing sie an zu weinen, nahm mich in ihre Arme (zum ersten Mal, seit ich denken kann!) und wünschte uns von ganzem Herzen, dass wir miteinander sehr glücklich werden sollten. Dann sah der Papa den Deichkater an und sagte: „Nun gut, in Gottes Namen, mir bleibt sowieso keine andere Wahl! Meinen Segen hast Du, Du Halunke, aber pass mir bloß gut auf meine Clarissa auf. Du bist mir ab heute für sie verantwortlich!“ Dann machte er bewegt kehrt und ging Hand in Hand mit der Mama ins Esszimmer hinüber. Galant reichte mir Heiko seinen Arm und wir folgten ihnen. Trotz der Tränen, die inzwischen reichlich aus meinen Augen flossen, blickte ich mit großer Genugtuung in die erstaunten Gesichter der restlichen Familienmitglieder, als der Papa ihnen eröffnete, dass Heiko und ich uns soeben verlobt hätten! Nur Tante Alexandra, Heikos Oma, weinte, allerdings vor Glück. Aus ihrem Schaukelstuhl hielt sie mir ihre dünnen Arme entgegen, damit ich sie umarme, und sprach mir

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