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Junge, bist du aber gewachsen! Es ist schon gut, Silke, es ist einer meiner früheren Schüler. Komm bitte herein, am besten gleich hier in mein Arbeitszimmer.“

      Clarissa hält einem etwa zwölfjährigen, blassen und mageren Jungen in kurzen Hosen die Tür auf. Verängstigt knetet er mit beiden Händen seine Schiebermütze. Er geht an Clarissa vorbei und diese schließt die Tür, nachdem sie sich durch einen schnellen Blick in die Diele vergewissert hat, dass Silke wieder in der Küche verschwunden ist.

      „Moses Kovacs, bin ich richtig?“, flüstert sie leise, während sie ihn neugierig mustert.

      Der Junge schaut sie mit seinen dunklen Augen an und nickt wortlos. „Fräulein von St..., entschuldigen Sie, Frau Keller“, stammelt er verlegen.

      „Wie hast du mich überhaupt gefunden?“

      „Ich habe im Telefonbuch Ihren früheren Namen gesucht und die Nummer, die dort angegeben ist, angerufen. Ihre Mutter hat mir gesagt, dass Sie jetzt Keller heißen und hier wohnen. Da bin ich einfach hergekommen.“

      „Und was führt dich zu mir, Moses?“, fragt Clarissa beklommen. Sie ahnt, dass der Junge all dies nur wegen einer bitteren Not auf sich genommen hat.

      „Frau Keller, entschuldigen Sie bitte, dass ich zu Ihnen gekommen bin, aber ich wusste wirklich nicht mehr, was ich jetzt tun soll!“, entfährt es Moses. Eine Träne entweicht einem seiner Augen und kullert über die inzwischen von Erregung errötete Wange.

      „Ist ja gut, Moses, beruhige dich. Setz dich erst einmal. Willst du etwas zu trinken haben?“

      Nachdem der Junge den Kopf geschüttelt hat und sich beide gesetzt haben, fragt Clarissa: „So, und jetzt erzählst du mir in aller Ruhe, was dich bedrückt. Du brauchst vor mir keine Angst zu haben, das weißt du doch?“

      „Ja, Frau Keller. Sie sind der einzige Mensch, zu dem ich noch Vertrauen habe. Deswegen bin ich ja zu Ihnen gekommen.“ Er macht eine Pause.

      „Also gut, was ist los?“ Clarissas Stimme klingt weich und freundlich, um dem Jungen die Angst zu nehmen.

      „Der Rektor hat mich gestern aus der Schule geworfen! Weil ich doch Jude bin!“

      Die Inbrunst, mit der diese Klage an Clarissa herangetragen wird, erschüttert sie mehr als die Tatsache selbst. Sie hält einen Moment inne, um sich die richtigen Worte zurechtzulegen.

      „Ja, Moses, ich weiß. Es ist sehr schlimm und auch sehr ungerecht. Aber so, wie die Dinge heute stehen, ist es kaum möglich, etwas dagegen zu tun. Haben deine Eltern nicht mit dir darüber gesprochen? Hast du von den neuen Gesetzen gegen die Juden gehört?“

      Moses nickt. „Ja. Mein Vater und meine Mutter sind ganz verzweifelt. Wir wissen nicht mehr, was wir machen sollen. Die Mutter sitzt nur noch zu Hause und weint den ganzen Tag. Vater ist Schuster und hat Arbeit beim Schuhmachermeister Lorenzen. Der Meister ist sehr gut zu ihm, aber seine Frau, die Ulrike, die hackt in der letzten Zeit immer auf Vater herum. Er hat neulich gehört, wie sich die beiden seinetwegen in der Küche gestritten haben. Sie hat gesagt: ‚Wenn du den Jud’ nicht bald auf die Straße setzt, werden die Leute nicht mehr bei uns kaufen!‘ Ach, Frau Keller, ich bin so unglücklich. Was soll nur aus uns werden? Warum machen die das mit uns? Was haben wir ihnen nur getan, dass sie uns so hassen?“

      „Moses, ich kann sehr gut nachfühlen, wie dir zumute sein muss. Ich kann dir aber auch nur sagen, dass es mir sehr leidtut. Die heutige Lage ist schwierig, auch für uns! Es fällt mir nicht gerade leicht, einem zwölfjährigen Jungen etwas derart Kompliziertes zu erklären. Weißt du, die meisten Erwachsenen können es auch nicht verstehen, das kannst du mir glauben.“

      Clarissa macht eine Denkpause. Danach fährt sie fort:

      „Vielleicht kann ich es dir so verständlich machen: Es gibt gute und böse, starke und schwache Menschen. Ist die Mehrzahl der guten Menschen stark, dann ist alles in Ordnung. Sind dagegen die Bösen stark und in der Überzahl, hingegen die Guten zu schwach, um sich deren Machenschaften zu widersetzen, dann machen die Bösen mit den Guten, was sie wollen und es kommt zu solchen Situationen, wie wir sie jetzt erleben.“

      Moses sieht Clarissa mit einem Ausdruck an, der ihr verrät, dass der Junge sichtlich enttäuscht ist. Er hat doch Hilfe von ihr erwartet. Sie hat ihm bisher nichts anderes gegeben als Worte.

      Clarissa fühlt Hilflosigkeit. Was soll sie, was kann sie für ihn tun? „Nun, Moses, in diesem Moment kann ich dir wirklich nicht genau sagen, was für euch das Beste ist. Haben deine Eltern schon mal darüber nachgedacht auszuwandern? In ein anderes Land zu gehen?“

      „Ja, ich habe zwei oder drei Mal gehört, wie sie darüber sprachen. Mehr weiß ich nicht. Ich will aber nicht von hier weg! Warum auch? Hier habe ich doch alle meine Fr...“ An diesem Punkt unterbricht Moses den Satz. Bittere Tränen kullern jetzt aus seinen Augen. Zutiefst gedemütigt muss er an die gestrige Szene denken, als er unter den lauten Rufen seiner Klassenkameraden („Ohne Jud’ ist sehr gut! Jud’ ans Messer ist noch besser!“) vom Rektor aus der Schule geworfen wurde. Er hat in seiner Erinnerung aber auch die Gesichter derjenigen drei Freunde festgehalten, die nicht mitgeschrien, sondern nur traurig geguckt haben. Ja, Frau Keller hat schon recht: die wenigen, schwachen Guten.

      „Was willst du wegen der Schule machen?“

      „Rektor Schneider sagte mir, dass ich von jetzt an in die Judenschule gehen solle, da gehören meinesgleichen hin. Soviel ich weiß, soll es in Kiel eine jüdische Schule geben. Aber wie komme ich von Oldenmoor nach Kiel?“

      „Nein, das geht wirklich nicht.“ Clarissa denkt einen Augenblick nach. „Weißt du, Moses, ich habe eine Idee. Jetzt gehst du erst einmal nach Hause. Ich werde heute Abend, wenn mein Mann von der Arbeit kommt, alles mit ihm besprechen. Er ist ein sehr guter Mensch und ich bin mir sicher, er wird viel Verständnis für eure Lage aufbringen. Er hat auch immer gute Einfälle, wie man aus solchen Schwierigkeiten herauskommen kann.“

      Clarissa macht eine Pause. Überlege jetzt genau, sagt sie sich, was du dem Jungen sagst!

      „Am besten, du gehst in zwei Tagen noch mal zu meiner Mutter – du weißt schon. Sie wird mich dann benachrichtigen und ich werde ihr wiederum sagen, was sie dir ausrichten soll, wenn du sie wieder besuchst – sagen wir, einen Tag danach. Bitte versteh das nicht falsch, aber ...“

      „Ich habe genau verstanden, Frau Keller. Ich möchte Ihnen keine Schwierigkeiten verursachen. Es war nur so, ich wusste wirklich nicht mehr ...“

      „Ist schon gut, mein Junge. Und sage niemandem, dass du heute hier gewesen bist. Versprichst du mir das?“

      „Ja, ich verspreche es Ihnen. Auch meine Eltern wissen nicht, dass ich zu Ihnen gekommen bin.“

      Clarissa begleitet den Jungen zur Haustür. Er gibt ihr die Hand und macht einen tiefen Diener. Danach verschwindet er in der nebligen Dunkelheit.

      Nachdem sie die Haustür geschlossen hat, geht Clarissa in Gedanken versunken in ihr Arbeitszimmer zurück. Sie nimmt den Füller und schreibt:

       Hatten wir nicht ohnehin schon genügend Sorgen? Und jetzt auch das noch! Armer Junge, arme Leute. Aber was kann ich, was können wir wirklich für sie tun? Noch dazu in einem Moment, in dem wir selbst nicht genau wissen, wie wir die eigenen Probleme lösen sollen? Außerdem: Woher den Mut nehmen, für diese Rechtlosen und Entehrten gegen den herrschenden Meinungsstrom einzutreten? Und uns damit selbst der Gefahr auszusetzen, wie diese Rechtlosen und Entehrten behandelt zu werden – ihr grausames Schicksal teilen zu müssen? Oder sollen wir lieber doch Augen, Ohren und Herzen verschließen und von alledem nichts wissen wollen? Es ist nicht unsere Schuld, wir haben nicht dazu beigetragen, dass diese Regierung an die Macht gekommen ist! Hoffentlich fällt dem Deichkater etwas Passendes ein!

      Clarissas Gedanken werden durch den Ruf einer fröhlichen, vertrauten Stimme unterbrochen: „Liebe Prinzessin, dein Göttergatte ist wieder da!“

      Clarissa schließt das Tagebuch sehr vorsichtig im Geheimfach ihres Schreibtisches ein, löscht das Licht und verlässt das Zimmer.

      *

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