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vorgefundenen ethnografischen Gegebenheiten zu stabilisieren, doch gelang dies nur mühsam und keineswegs vollständig: Nicht nur der Kimbern-Einfall auf die Iberische Halbinsel Ende des 2. Jhs. v. Chr. (Liv. Per. 67) belegt dauernde Wanderungen von Ost nach West, auch noch in Caesars bellum civile (I, 51) hören wir am Rande des militärisch-politischen Geschehens von der Binnenwanderung einer Stammesgruppe keltischer Provenienz hinter der Front nahe Ilerda, ohne erkennbaren Fremdeinfluss und möglicherweise zum Zwecke neuer Landnahme. Dergleichen muss es zu allen antiken Zeiten gegeben haben und selbstverständlich gehören sowohl die germanischen Einwanderungen der sogenannten Völkerwanderungszeit als auch Tariq ibn Ziyads Invasion von 711 n. Chr. dazu. Es ist also keineswegs immer den Irrtümern antiker Schriftquellen anzulasten, wenn irritierende Informationen sich zu widersprechen scheinen: Eine ethnische Gruppe, die in republikanischer Zeit eine bestimmte Zone bewohnt, kann zu Zeiten der strabonischen, plinianischen oder späterer ‚Landeskunden‘ anderswo, sogar in beträchtlicher Entfernung, angetroffen worden sein. Möglich sind darum allenfalls Momentaufnahmen ethnografischer Festlegungen innerhalb der vorher bezeichneten Blöcke.

      Dass das Bild des römischen Hispanien in der älteren europäischen Geschichtsforschung durch die Romverherrlichung der frühen Kirche, der Renaissance und des Humanismus geprägt ist und Fragen nach dem Eigenwert der unterschiedlichen einheimischen Lebens- und Kulturformen kaum gestellt wurden, entspricht den geisteswissenschaftlichen und ideologischen Traditionen des Landes und Gesamteuropas. J. Linderski hat in seinem Essay „Si vis pacem, para bellum: Concepts of defensiv Imperialism“ aus dem Jahre 1984 am Exempel von Mommsens, Holleaux´ und Tenney Franks Behandlung der Frage, ob es einen ,römischen Imperialismus‘ gegeben habe, deutlich gemacht, unter welchen zeitgebundenen ideologischen Prämissen, Hegels Philosophie eingeschlossen, die drei Gelehrten zu ihrer Vorstellung von Rom gelangt sind, die sich bekanntlich zwischen Bewunderung, Apologie und utopia d’evasione bewegt.

      Allerdings: Was aus der Iberischen Halbinsel ohne Rom geworden wäre oder hätte werden können, was Rom – einmal abgesehen von den unbestreitbaren zivilisatorischen Verdiensten während seiner jahrhundertelangen Beherrschung der Halbinsel – unterdrückte, verhinderte oder zerschlug, hat kaum jemand beschäftigt, ebenso wenig sind mentalitätsgeschichtliche Annäherungsversuche bekannt geworden. Dabei ist eine frühe phoinikisch-punische Semitisierung des Landes ebenso denkbar wie seine Teil-Arabisierung im 8. bis 15. Jh. historische Realität wurde. Auch eine weitergehende Iberisierung des Nordens und mittleren Westens lag im Bereich des Möglichen. Stattdessen unterdrückte Rom – weitaus heftiger als vordem Karthago – unbarmherzig alle Versuche zu partikularer Identitätsbehauptung bzw. -gewinnung, ohne freilich dauerhaft – von einem nicht überall gleichermaßen tiefgreifenden Überbau abgesehen – eine profunde politisch-kulturelle Einheitlichkeit zu schaffen. Unverkennbar war die Iberische Halbinsel in der gesamten Antike überwiegend Objekt der Geschichte; wenn nicht alles täuscht, begann sie erst mit der reconquista zumindest zeitweise ihr Subjekt, d. h. Herrin der eigenen Geschichte zu werden.

      Eine kulturelle Vereinheitlichung gelang sprachlich und ideologisch in gewissem Umfange für vergleichsweise lange Zeit der römischen Kirche, politisch jedoch später weder den Habsburgern noch den Bourbonen oder auch den autoritären Regimes des 19. und 20. Jhs. Erst in der politischen Gegenwart Spaniens scheint man wenigstens teilweise – wenn auch vielfach widerstrebend – begriffen zu haben, dass die grundsätzlichen mentalen und kulturellen Differenzen der verschiedenen Landesteile nicht dauerhaft ignoriert werden können; Portugal, d. h. ein großer Teil des indoeuropäisch-lusitanischen Raumes, hatte als erster Landesteil die Separation vollzogen. Freilich gibt es auch weiterhin Kräfte, die diese uralte differenzierte historische Prägung nicht wahrhaben wollen, die der politischen Zeitgenossenschaft (wie bereits unter dem Monarchen Felipe II., den Bourbonen und dem Autokraten Franco) nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Erwägungen inopportun erscheint, gleichwohl aber eine unverrückbare Tatsache ist.

      Schließlich: Bei allem, was uns rund 200 Jahre Forschungsgeschichte gelehrt haben, ist die Wissens-Landkarte zur Antiken Welt, auch die der Iberischen Halbinsel, voller weißer Flecken. Wir wissen niemals genug über die Welt des Altertums, auch wenn dieses oder jenes Problem mit der Zeit gelöst und manche Fragen beantwortet werden konnten. In gewissen Fällen behelfen wir uns mit Analogien, zuweilen mit Plausibilitäten, um historische Zusammenhänge transparent werden zu lassen. Die eine oder andere Gelehrtenschule übt sich hier in strengerer methodischer Askese, doch muss in Arbeiten wie dieser zumindest ein roter Faden gezogen werden können, um Zusammenhänge überhaupt erkennbar zu machen. Gleichwohl ist der knappe Hinweis „non liquet“ = „die Wahrheit erschließt sich nicht“ in vielen Zusammenhängen die einzig zulässige Aussage.

      Es mag den Leser irritieren, dass von Hispanien gesprochen wird: Hispanien meint Spanien und Portugal und entzieht portugiesischen Empfindlichkeiten den Boden, die sich daran entzündeten, dass frühere Generationen, wie schon die Spätantike, allzu oft „Spanien“ für das Ganze nahmen. Dass die handelnden Personen mit vollem Namen und nicht mit den üblichen, teilweise törichten und inkonsequenten Verkürzungen bezeichnet werden, hat etwas mit der Würde der Personen zu tun. Niemand würde den ersten Kaiser als „August“ bezeichnen, aber alle Welt spricht von „Trajan“ oder „Mark Aurel“ Das ist teils törichtes Nachplappern einer vergangenen Mode, teils Sprachfaulheit. Beides erscheint mir unstatthaft. Ebenso wie wir selbst haben Persönlichkeiten der Vergangenheit ein Recht auf ihren Namen. Das gilt auch für Völker! So bequem es wäre, mit dem gängigen Sprachgebrauch von „Westgoten“ und „Ostgoten“ zu reden: In dieser Arbeit heißen sie nach ihrer Selbstbezeichnung Wisigoten und Ostrogoten.

      Ich muss auch bekennen, dass es mir unmöglich ist, den Begriff „Heiden“ zu verwenden; wie die Angelsachsen spreche ich deswegen von pagani. So ist der pejorativ-diskriminierende Charakter der Bezeichnung, welche die siegreichen Christen auf alle Menschen anwandten, die andere Glaubensüberzeugungen vertraten, wesentlich deutlicher. Zudem wird klarer erkennbar, dass der zeitweise mörderische Gegensatz: pagani – christiani einer historischen Phase angehört, die vergangen ist oder, wie der hispanische Kaiser Traianus schrieb, „nec nostri saeculi est“, „nicht mehr zeitgemäß“.

      Nicht erst, seit mir im Zusammenhang mit meiner Mitarbeit am Bronzezeit-Projekt der Bonner „Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland“ im Jahre 1998/​99 bewusst wurde, in welchem Maße politische Kräfte in Brüssel, aber auch anderswo in Europa, sich mühen, dem ökonomisch-politischen Konstrukt „Europäische Union“ eine historische Legitimation zu verschaffen, und sie dafür keine Geschichts-Klitterung zu scheuen scheinen, hege ich Bedenken gegenüber Geschichtsinterpretationen aus politisch-ideologischer Zweckmäßigkeit. Sowenig sich im 3. Jh. v. Chr. die Hirten Lusitaniens für hellenische Fischer interessierten, so wenig hat ein heutiger Hutmacher aus Amalfi oder ein Korbflechter aus Bulgarien mit einem portugiesischen Sichelschmied gemein. Man denkt anders, fühlt anders und handelt anders. Es gab, wie der neue bronzezeitliche Fund im niedersächsischen Gessel (2011) mit Gold aus Zentralasien im Vergleich mit Funden gleicher Zeitstellung auf der Iberischen Halbinsel erneut belegt, in der europäischen Vorgeschichte weltweit kulturelle Interaktion, Migration, Austausch, aber keine europäische Identität. Es gibt sie auch heute – und vermutlich in Zukunft – nicht. Sowenig Rom die immer wieder aufbrechende Zentrifugalität im Westen seines Imperiums – um nur davon zu reden – dauerhaft unterbinden konnte, so wenig gelang die Verschmelzung dem Karolinger-Reich oder Napoleon Bonaparte. Sie wird auch der aktuellen Europhilie nicht gelingen. Die Iberische Halbinsel von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart liefert ein perfektes Modell dafür, auf welchen Grundlagen und bis zu welcher Grenze Gemeinsamkeit gelingen kann und was an vieltausendjährigen Individualismen, Lebensformen, Fühl- und Denkweisen weder zu addieren noch zu amalgamieren und darum nicht verhandelbar ist.

      Nach der letzten Durchsicht des Manuskriptes ist mir erschreckend deutlich, was alles noch

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