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Reichweite vor Augen: Kleine (Adress-Wohnung) in Deutschland und Hauptwohnsitz in der „schönsten Stadt der Welt“, seiner Heimatstadt am Meer. Wir konnten es kaum erwarten, die Früchte unseres Arbeitslebens zu genießen, das äußerst anspruchsvoll war, das uns aber auch zu einem gewissen Wohlstand verhalf, den man als gute Mittelklasse bezeichnen konnte. Doch es kam anders!

      Um ein paar Tage auszuspannen und endlich der Bitte meiner Freundin Dagmar nachzukommen, fuhr ich mit ihr nach Budapest. Sie lernte seit Jahren ungarisch und hatte dort ebenfalls eine Freundin, die uns vor Ort treffen und „ihre Stadt“ zeigen wollte. Am Abend des ersten Besichtigungs-Tages, kamen wir, reichlich geschafft, in unserem 4-Sterne-Wellness-Hotel an. Kaum auf das Bett geplumpst, überkamen mich urplötzlich unsägliche Kopfschmerzen, mein Nervensystem spielte total verrückt, so dass ich kaum mehr wusste, was oben oder unten war, zudem wurde mir übel; ich konnte mich nicht erinnern, je solchen Totalcrash verspürt zu haben. Dagmar ging, nachdem sie sich vergewisserte, mich alleine lassen zu können, zu Tisch. Mit letzter Kraft nahm ich zwei Aspirin, ließ mir eine Badewanne einlaufen, keineswegs sicher, dieses Bad heil zu überstehen. Mehr noch als mein Zustand machte mir die völlig unbekannte Art der Beschwerden zu schaffen. Nur allmählich fand mein Körper zu seinem gewohnten Rhythmus zurück, ich erholte mich aber während unseres Aufenthalts nie mehr ganz von dieser Attacke. Einmal fragte mich Dagmar, ob ich denn meinen Mann nie anrufen würde? „Nein, nein, das machen wir nie“, sagte ich, dabei verwechselte ich die Situation mit meinem Sohn, denn von Gianni, meinem Mann, war ich ja noch nie länger als ein paar Stunden getrennt. Hätte ich bloß ihren Rat befolgt!

      Wie sich später bei meiner Rückkehr herausstellte, brach just zu diesem Zeitpunkt auf äußerst schmerzhafte Weise seine Krankheit aus. Er brauchte mich, war alleine und vollkommen hilflos. Nun, Budapest hatte so einige Erlebnisse, wobei nicht alle als schön bezeichnet werden konnten. Es war die Zeit nach dem Umbruch, der Privatisierung, da blieb schon Einiges auf der Strecke, dies betraf vor allem die untere Schicht, die sich gefährlich um die Metro-Viertel scharte. Einige gemischte Erfahrungen reicher, fuhren wir nach 5 Tagen zurück.

      Ich wollte meinen Schnuffi, so nannte ich meinen Mann, voller Vorfreude überraschen und läutete an der Türe - es rührte sich nichts. War er nicht zu Hause? Kaum denkbar, um diese Zeit. Also ein zweiter Versuch, diesmal vehementer. Zögernd öffnete sich die Tür. Was ich sah, erschreckte mich zu Tode. Da stand nicht mein Mann, sondern ein zu Methusalem gealtertes Bündel Elend. In gebeugter Haltung berichtete er von irren Schmerzen im Rücken. Es war ihm weder Sitzen, noch Liegen oder Stehen möglich, und das, seit ich weg war. Schuldgefühle überkamen mich, ihn allein gelassen zu haben. Aber wie konnte ich das ahnen? Noch nie hatte er einen Arzt gebraucht. Beim Abschied zum Bahnhof begleitete er mich liebevoll, wenngleich er mir, jetzt, im Nachhinein betrachtet, ziemlich kraftlos oder etwas traurig erschien. Unglaublich, aber er bat mich, anderentags, Montag, eigentlich Arbeits- und zudem Abrechnungstag, mit ihm zum Arzt zu gehen. Es musste drastisch und nicht nur ernst sein, denn es war das erste Mal, dass wir beide uns entschuldigten. Undenkbar, nicht zur Arbeit zu gehen, so was kam für andere Mitarbeiter, nicht jedoch für uns infrage, die wir auch noch „mit dem Kopf unter dem Arm“ unserer Pflicht nachgingen. Unsere Hausärztin ordnete eine Blutentnahme an. Tags darauf die telefonische Aufforderung, „bitte umgehend kommen, zur Klärung der Angelegenheit.“ Alle Blut-Werte sprengten jeden Rahmen und eine sofortige Krankenhauseinweisung wurde veranlasst.

      Dort angekommen, es war ein sehr heißer November-Tag, mussten wir warten, bis wir als neunter Notfall-Patient, nach etlichen Stunden, endlich dran waren. Mittlerweile sah mein Mann gelb wie eine Honigmelone aus, was die einfallenden Sonnenstrahlen noch untermalten. Er musste für weitere Untersuchungen im Krankenhaus bleiben. Was dann kam, war das Fegefeuer mit Sicht zur Hölle. Am schlimmsten war die Wartezeit, sprich die Zeit des Bangens und der Ungewissheit, die sich endlos hinzog, bis alle nötigen Untersuchungen abgeschlossen waren. Dann das brutale Resultat: Er hatte, wie sich der Arzt ausdrückte, die absolut hinterhältigste, heim-tückischste Krankheit in derzeitiger Medizin. Oh Gott, welch ein Urteil. Wenn du es vernimmst, bist du erstmal entsetzt. Wie konnte das sein? Wir hatten einen sehr schönen Sommer mit einem 4-wöchigen Aufenthalt im August/September in seiner Heimat hinter uns, waren motiviert für die „Frühaussteigerphase“, die in Reichweite anstand, und jetzt das! Erste Reaktion, unglaubliche Wut, gefolgt von der Frage nach dem Warum. Banale Dinge vermischen sich mit der unausweichlichen Realität, die du in diesem Augenblick noch nicht einschätzen kannst, aber nach und nach, mit jeder erneuten Untersuchung, zur Gewissheit wird.

      Na, meine Liebe, hast die Rechnung wohl ohne „IHN“ gemacht, dachte ich sarkastisch zu mir, „IHN“, den großen Regisseur, der alles gibt und nimmt, der mich nicht vergessen wird und wieder einmal zugeschlagen hatte. Nächtelang am Fenster stehend, klagte ich ihn an. Verdammt, warum er? Ein allseits beliebter Mensch, der nie jemanden etwas zu leide getan hat, im Gegenteil, bei dem die Menschen die Straßenseite wechselten, um mit ihm zu plaudern, um hinterher frohgemut weiterzugehen. Wo er auftauchte, war gute Stimmung garantiert.

      Nach neun qualvollen Monaten des Haderns, Hoffens und Leidens, in denen wir das ganze Chemo-, Strahlen- und Radio-Therapie-Programm sowie neueste amerikanische Studien, die mit 1 ½ Millionen versichert waren, sprich, nichts unversucht ließen, ging es unaufhaltsam dem Ende entgegen. Meine große Liebe „Schnuffi“ kämpfte verbissen gegen hochgradiges Fieber in einer Auffangklinik für Krebskranke, überstand unmenschliche Therapien, in diversen Kliniken, allesamt unwürdige Aufenthaltsorte, zusammen mit herzzerreißenden Patienten-Schicksalen. Dann das Aus. Er durfte sich seinen Platz zum Sterben aussuchen und entschied sich für zuhause.

      Es war August und fürchterlich heiß. Sein Sterbelager, unser gemeinsames Schlafzimmer aber war nordseitig, mit herabgelassenen Jalousien erträglich kühl gehalten, und wir waren alle da. Seine geliebten Nachbarn, die Verwandten, auch sein Bruder und die Schwägerin aus Italien waren eingetroffen, Arzt und Pflegedienst im wechselnden Einsatz. In der dritten Nacht vor seinem Tod liebte er mich, unter Aufbietung all seiner Kräfte ein letztes Mal und es war uns beiden bewusst: Nie mehr!

      Danach gab er mir entscheidende Lebenshilfe mit - auf meinen Weg allein:

      „Zwei Dinge, Piccola:

      1. Du bist eine super Frau, es tut mir unendlich leid, dich alleine lassen zu müssen, das hast du nicht verdient. Aber es gibt keine guten Männer mehr, wenn doch, sind sie verheiratet.Trotzdem, du sollst Spaß haben, aber kein Türke!

      2. Niemand kommt in „meine kleine Schnuffi-Wohnung. „

      Generell sagte er noch: „Du hast einen großen Fehler, du bist zu ehrlich, aber nicht alle Menschen um dich sind genauso ehrlich wie du.“

      Ich weinte still.

      Nun kannte ich bis dato so ziemlich jede Nation der Welt; erstaunlicherweise befand sich jedoch nicht eine türkische Person darunter. Deshalb fiel das Versprechen leicht: „Nein, niemals.“ Und die bisher vermietete Wohnung, in die ich ziehen würde, war sowieso nur für mich. Wie konnte er an ein Leben nach ihm denken? Ausgeschlossen!

      Gianni hatte vor 10 Jahren zum Kauf geraten mit den Worten: „Piccola, deine Rente mal nix genug, die Wohnung ist für dich, ich da nix wohnen.“ „Aber Schnuffi, du gehst doch auch mal da mit mir rein, wenn auch nur für die kurze Zeit, die wir in Deutschland sind“, tat er stets mit einem eigenartigen Lächeln auf den Lippen ab.“ Heute weiß ich, er war in allem ein Prophet. Nichts, was er nicht vorausgesehen hatte. Wir lebten in einer gemieteten Wohnung, in wunderschöner Lage, mit netten Nachbarn, die ihm die Heimat ersetzten. Von dort würde er nie freiwillig weg gehen, darin war er standhaft.

      Seinem in Jahren oft geäußerter letzter Wunsch: „Von hier gehe ich nur mit den Füßen voraus weg“, wurde stattgegeben, und so drehten die Leichenträger den Sarg um, und trugen ihn mit den Füßen voraus aus dem 1. Stock zu seiner letzten Fahrt in die Leichenhalle. Er war „Verso l’alto“, was soviel heißt wie, nach oben, himmelwärts, gegangen. Von da an war ich nicht mehr ich. Auf den Bildern der Beerdigung habe ich gelächelt als der Sarg herunter gelassen wurde, während „it’s time to say goodbye“, von Andrea Bocelli, erklang. Ich kann mich nur noch erinnern, ständig an Jacqueline Kennedy gedacht zu haben, die mir Vorbild, in gefasster Haltung und sehr stark, am Grab ihres Mannes stand, bei

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