Скачать книгу

schlaflose Nächte bereitet, wenn sie regelmäßig mit Sartre in die UdSSR reist, als sich andere längst vom sogenannten real existierenden Sozialismus abgewandt hatten, oder wenn sie Anfang der 70er Jahre mit den jungen Maoisten auf die Straße geht. Ein Satz ist es vor allem, der sie wie Sartre definitiv nach dem Fall der Mauer für viele zum Symbol des politischen Irrtums macht, auch wenn sie sich später zu moderateren Positionen bekannte. Um im Jahre 1954, als sie mit Sartre die Kommunistische Partei unterstützte, das »rechte Denken« zu charakterisieren, schrieb sie in den Temps modernes: »Die Wahrheit ist unteilbar, der Irrtum vielfältig. Es ist kein Zufall, dass die Rechte sich zum Pluralismus bekennt.« Zumindest aus heutiger Sicht kann man kaum jenen widersprechen, die in diesem Zitat eine mögliche Grundlage des Totalitarismus erkennen.

       Schriftstellerin

      In der Rangordnung der Rollen, die Beauvoir einnahm, befindet sich jene der Schriftstellerin an letzter Stelle, vielleicht zu Unrecht. Das Konzept der engagierten Literatur, in dem das Signifikat auf Kosten des Signifikanten privilegiert wird, hat wahrscheinlich dazu geführt, die Betrachtung der Form zu vernachlässigen. Während eine Avantgarde-Autorin wie Hélène Cixous Beauvoir mit absoluter Verachtung straft, hat Roland Barthes, den man nicht unbedingt zur Arrière-Garde zählen kann, noch kurz vor seinem Tode in einem seiner letzten Interviews darauf hingewiesen, wie verführerisch neu der Stil in Beauvoirs (und Sartres) Essays war. Literatur, Philosophie und Politik, die zuvor getrennten Registern angehörten, gingen bei ihnen – zweifellos aufgrund der Phänomenologie – eine Allianz ein. Die Beschreibung des Körpers mit philosophischen Begriffen war im Deuxième Sexe derartig ungewohnt, dass man Beauvoir 1949 in Paris trotz der unterstellten Obszönität ihres Textes einer unpassenden und preziösen Oberlehrerhaftigkeit bezichtigte. Man kann sich fragen, ob die Gender-Theorie einer Judith Butler schon da wäre, wo sie heute steht, wenn Beauvoir 1949 nicht damit begonnen hätte, die Geschlechterfrage philosophisch anzugehen.

      Als narrative Gattung erscheint – trotz des Intellektuellenromans Les Mandarins, für den sie 1954 den Prix Goncourt erhielt – die Autobiografie am eindrucksvollsten, insbesondere der erste Band Mémoires d’une jeune fille rangée, nicht nur wegen der gelungenen Verbindung von individuellem Lebenslauf und kollektiver Geschichte. Große Literatur entsteht unter Zwang, so auch dieser Band, in dem Beauvoir sich von einer Schuld freischreibt, Schuld gegenüber ihrer Freundin Zaza, der sie so viel verdankte und die sie sterbend allein ließ, weil ihre neue Liebesbeziehung zu Sartre sie völlig in Anspruch nahm. Starke Prosa weist auch die Verarbeitung des Todes ihrer Mutter auf, die sie nicht schätzte, weil sie sich in die konventionelle Frauenrolle ihrer Gesellschaftsschicht gefügt hatte: Sartre hat den kurzen, ungemein dichten Text, der den ironischen Titel Une mort très douce trägt, als das Beste bezeichnet, was sie überhaupt geschrieben habe. Im Augenblick des Todes ist es ihr endlich möglich, Empathie mit ihrer Mutter zu üben. Die letzten Sätze weisen über das individuelle Schicksal hinaus: »Es gibt keinen natürlichen Tod: Nichts, was dem Menschen widerfährt, ist jemals natürlich, denn seine Anwesenheit stellt die Welt in Frage. Alle Menschen sind sterblich: Aber für jeden Menschen ist sein Tod ein Unglücksfall und, auch wenn er um ihn weiß und sich fügt, ein unverdienter Gewaltakt.«

      Erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5./​6. Januar 2008 anlässlich des 100. Geburtstags von Simone de Beauvoir

II. Das andere Geschlecht

      Nicht nur zum Ende des Jahrtausends, das gerade vorbei ist, sondern auch zum Ende des Jahrhunderts ist, wie wir alle wissen, häufig Bilanz gezogen worden. Man versuchte, das zu benennen, was das 20. Jahrhundert am stärksten charakterisiert habe. Dabei fiel häufig der Begriff des Totalitarismus. Man kann aber auch anderer Meinung sein und mit der französischen Philosophin Élisabeth Badinter annehmen, dass das 20. Jahrhundert ein großer Schritt vorwärts gewesen ist in der Befreiung der Hälfte der Menschheit – der Frauen –, jedenfalls in den westlichen Gesellschaften.8 In diesem Zusammenhang wird immer wieder die 1949 erschienene grundlegende Studie zur »Lage der Frau« Das andere Geschlecht genannt, obwohl im Einzelnen die Weise, wie das Buch gewirkt hat, längst nicht untersucht ist.9 Es wurde sehr schnell nach seinem Erscheinen in zahlreiche Sprachen übersetzt: heute sind es 33. Auch ohne detaillierte empirische Rezeptionsstudien kann man stark vermuten, dass ohne Das andere Geschlecht die Feminismusdebatte mit ihren konkreten Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben nicht da wäre, wo sie heute ist. Dasselbe gilt für die Frauen- und Geschlechterforschung. Ich möchte Ihnen heute sagen, wer die Frau war, die dieses Buch geschrieben hat; wie sie dazu kam, es zu schreiben; welches die wichtigsten Thesen und ihre philosophischen Prämissen sind und wie die Aufnahme dieses Buches vor fünfzig Jahren aussah und heute aussieht.

       Eine untypische Biografie

      Zunächst also: Wer war Simone de Beauvoir?

      Simone de Beauvoir wurde 1908 in Paris geboren in einer Familie des höheren Bürgertums, ja sogar niederen Adels – de Beauvoir –, dessen Lebensvollzug genauen Codes und sozialen Riten unterlag, die die Klassenzugehörigkeit signalisierten. Zu diesen Kennzeichen und Distinktionsmerkmalen gehörte es, dass die Frauen nicht arbeiteten, genauer gesagt: keiner Erwerbsarbeit nachgingen. Simone de Beauvoirs Lebensmuster war quasi vorgezeichnet – hätte eine Wirtschaftskrise der Familie nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie verarmte. Man konnte der Tochter keine Mitgift geben. Damit wurde eine standesgemäße Heirat unmöglich. Beauvoir musste wider die Regeln ihrer Klasse einen Beruf ergreifen, um sich selbst zu ernähren. Nichts Besseres hätte ihr, wie sie später erkannte, passieren können.10

      Sie studiert Philosophie und legt 1929 im Alter von 21 Jahren ihre Staatsprüfung, die Agrégation, ab. Abgesehen davon, dass es damals kaum Frauen gab, die bis zu dieser Prüfung vordrangen – sie durften sie überhaupt erst seit 1920 ablegen –, war sie auch zu ihrer Zeit die Jüngste, die sie bestand. Sie wurde die Zweite ihres Jahrgangs; an erster Stelle stand jemand, dem sie lebenslang verbunden bleiben sollte und den sie kurz zuvor kennengelernt hatte, Jean-Paul Sartre. Die bestandene Prüfung ist zugleich Garantie für die finanzielle Absicherung: Sie und Sartre sind in den dreißiger und vierziger Jahren Gymnasiallehrer, zunächst in der Provinz, dann in Paris. Lehrersein ist für sie jedoch nur ein Brotberuf: Beide wollten schon als Kinder Schriftsteller werden.

      Jede freie Minute, die ihr der Unterricht lässt, wird also ins Schreiben investiert. Wenn in Briefen oder Tagebuchnotizen aus dieser Zeit der Begriff »Arbeit« auftaucht, dann ist nicht etwa die Schule gemeint, sondern der Roman, den sie gerade schreibt. Die dreißiger Jahre ziehen sich endlos lang in Etüden hin, die sie entweder selbst verwirft oder die von den Verlagen abgelehnt werden. Einige Feministinnen behaupten heute, Beauvoir habe besondere Schwierigkeiten gehabt, sich auf dem literarischen Markt durchzusetzen, weil sie eine Frau war.11 Dabei entgeht ihnen, dass auch Sartre in den dreißiger Jahren lange auf der Stelle trat, bis ein Freund dem Verlag Gallimard seinen ersten Roman ans Herz legte, mit dem er in der Pariser Literaturszene eine Art Geheimtipp wurde. Beauvoir musste länger warten, bis ihr erster Roman erschien. Inzwischen war der Krieg ausgebrochen und Frankreich von den Deutschen besetzt. Im August 1943 publizierte Gallimard L’Invitée (deutsch Sie kam und blieb). Beauvoir hatte gerade ihre Stelle als Lehrerin verloren. Der Anlass für die Suspendierung war das Leben, das sie führte, und der Unterricht, den sie erteilte. Die mit den Deutschen kollaborierende Regierung von Vichy, der das Erziehungswesen unterstellt war, verteidigte andere Werte als vorher die Republik.12 Die von der Französischen Revolution proklamierten Menschenrechte – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (oder besser: Solidarität) – waren diskreditiert. Der antirepublikanische Vichy-Staat, der vorrevolutionäre Verhältnisse wiederherstellen wollte, hatte sie durch Arbeit, Familie, Vaterland ersetzt. Beauvoir erregte als Lehrerin Anstoß, weil sie weder in ihrer Lebensführung noch in ihrem Unterricht diese Werte mittrug: Sie war kein Vorbild. Denn sie lebte in »ungeordneten Verhältnissen«: Sie besaß kein »Heim«, wohnte im Hotel, korrigierte Klassenarbeiten im Café und hatte einen Geliebten. Überdies empfahl sie ihren Schülerinnen die Lektüre von Proust und Gide, Autoren, die als dekadent galten.

Скачать книгу