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die angestrebte klassenlose Gesellschaft ließ sich auch im Tod nicht verwirklichen.

      Wie oft hatte Conrad das schon fotografiert. Die Bilder glichen sich wie ein Ei dem anderen, man hätte einen Film daraus zusammensetzen können. Hatte der Bildreporter nicht die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, den Vorgang jedes Mal anders zu sehen? Mal von oben, mal von unten, mal mit dem Feuer im Vordergrund, mal mit der Trommel, dann wieder mit Blumen, feierlich ernste Gesichter, oh der Möglichkeiten gab es viele. Aber er konnte so viel variieren wie er wollte, ja das wurde sogar verlangt, unter einer Bedingung: Die Führung musste scharf im Mittelpunkt stehen. Jedes Jahr die gleichen Leute. Ein Musikkorps der Volkspolizei war aufmarschiert. Unsterbliche Opfer, wofür hatten sie ihr Leben gegeben? Dafür, dass alles in Unfähigkeit erstickte, für eine Utopie?

      Hinter den Grabplatten aus geschliffenem rotem Granit standen Thälmannpioniere, Schüler in Uniform mit rotem Halstuch, eine rote Nelke in der Hand, die sie auf ein Kommando hin niederlegten. Die Lehrer hatten Mühe, die Kinder in der nötigen Andacht zu halten.

      Ohne Kampfgruppe ging da nichts, sie musste die Kränze tragen. Wenn nicht die dicken Bäuche und Bärte gewesen wären, hätte das sehr militärisch aussehen können. Es hatte geregnet und der geschliffene Granit spiegelte die Kämpfer kopfstehend. Conrad fotografierte sie mit dem Völkerschlachtdenkmal im Hintergrund.

      Das Ritual ging weiter. 10 Uhr fand die nächste Kranzniederlegung am Ehrenhain der Sowjetarmee auf dem Ostfriedhof statt. Der ganze Konvoi – Autos und Omnibusse – setzte sich in Bewegung. Conrad kletterte in seinen Trabant und war früher da, er kannte den kürzesten Weg.

      Dort verdoppelte sich der Einsatz, zwei Musikkorps standen auf dem grünen Rasen, rechts die Sowjetarmee, links die Volksarmee. Die Sowjets wirkten schneidiger in ihren Paradeuniformen und sie spielten auch besser. Die Volksarmee dagegen sah in ihren langen Mänteln hölzern aus. Es trafen die gleichen Ehrengäste ein, verstärkt durch Abordnungen der bewaffneten Organe, Militärbezirk, Polizei, Staatssicherheit. Für Minuten brannte nun das ewige Feuer, betrieben aus einer Propangasflasche, bewacht von einem Feuerwehrmann. Sobald die Nationalhymnen erklangen, erstarrte alles in strammer Haltung.

      Wieder standen Thälmannpioniere hinter den Grabsteinen. Die dort Beerdigten waren im Durchschnitt 20 Jahre alt geworden. Merkwürdigerweise stand auf manchem Grabstein nur der Familienname und die Jahreszahl 1946. Warum war der Name nicht vollständig und warum fehlte der genaue Todestag? Es gab da Geheimnisse, waren die Begrabenen im Tod wieder die Opfer? Ein Jahr später wurden die Grabsteine mit Hakenkreuzen beschmiert und umgeworfen.

      Offiziere der Sowjetarmee legten als erste Kränze und Blumengebinde nieder. Im zackigen Stechschritt zogen sie wieder ab, der Alte Fritz hätte seine Freude gehabt. Weniger bei der Nationalen Volksarmee, die als nächste an der Reihe war. Dann lief alles weiter streng nach Protokoll, da war nichts dem Zufall überlassen. Zuerst die Partei, dann alle möglichen Organisationen, bis das Volk an der Reihe war, die Delegationen aus den Betrieben und den Wohnbezirken, eine ansehnliche Menge, die allerdings weniger aus eigenem Antrieb gekommen war, sondern mehr, weil sie keine Ausrede bei der Hand gehabt hatten.

      Mit dem Volk, inmitten sowjetischer Zivilangestellter und Offiziersfrauen, kam auch Vater Fjodor Povnyi, der Hauptgeistliche der Russischen Gedächtniskirche, das Kreuz leuchtete golden auf seinem schwarzen Gewand. Es war erst das zweite oder dritte Mal, dass er teilnehmen durfte. Dank dem Monster Perestroika hielt nun auch die Religion Einzug in der Sowjetarmee, die Kirchen begannen wieder zu „arbeiten“. Bei seinen Reisen in die Sowjetunion hatte Conrad oft gehört: Diese Kirche arbeitet jetzt als Museum. Nun war die Kirche zurückgekehrt, misstrauisch von den Parteioberen betrachtet: wo sollte das hinführen, wurde die Armee aufgeweicht.

      Zwei Kranzniederlegungen waren aber nicht genug, Der Tross zog weiter, wenige Schritte nur bis zum polnischen Ehrenmal. Hier achtete der polnische Generalkonsul auf das Protokoll. Aber das Pulver war bereits verschossen, es ging weniger feierlich zu, keine Musikkapelle, weniger Blumen. Aber immerhin, man hatte dem großen ungeliebten Bruder wieder einmal gezeigt, dass man an Polen nicht vorbei kommt. Deshalb wohl auch hatten die Polen ihr Ehrenmal in Sichtweite des sowjetischen errichtet, eine große, unregelmäßig geformte Steinplatte mit Fußabdrücken, vielleicht symbolisierend die letzten Spuren der ums Leben Gekommenen.

      Nunmehr eilte Conrad zu seinem Trabi und fuhr in die Merseburger Straße, die zu Ehren des 40. Jahrestages zum Teil in eine Fußgängerzone verwandelt worden war.

      Das System hatte eine Vorliebe für Jahrestage, deren Bedeutung dadurch unterstrichen wurde, dass die Werktätigen förmlich danach lechzten, irgendetwas zu übergeben: Eine neue Produktionslinie, ein neues Produkt, neue Wohnungen, einen neuen Kindergarten, einzig und allein gebaut zu Ehren des Jahrestages, gewissermaßen auf den Geburtstagstisch gelegt.

      Nun war das mit diesen Geburtstagsgeschenken so, dass ihre Fertigstellung nicht unbedingt synchron mit dem Ereignis lief. Manchmal war eine neue Einrichtung früher fertig, meist aber später. Man half sich, indem die zu früh fertig gestellten künstlich angehalten oder auch zweimal übergeben wurden, das erste Mal zum Probelauf und dann mit symbolischem Knopfdruck zum Jahrestag. Vorher durfte die Presse nichts darüber berichten, der Geburtstagsüberraschung wegen. Und was zum Jahrestag noch nicht fertig war, wurde trotzdem übergeben und die Presse musste darüber berichten, auch wenn die Anlage noch nicht lief. So gesehen war die kleine Fußgängerzone ein recht mickriges Geburtstagsgeschenk, zumal, wenn man die Jubiläumszahl 40 betrachtete.

      Für die Anwohner dieser einst stark befahrenen Straße war es dennoch angenehm. Anstatt auf Blech und wabernden Auspuff-Qualm blickten sie nun von den Fenstern ihrer strahlend weißen Fassaden auf Blumenschalen. Der Verkehrslärm war verschwunden, ein Idyll im Arbeiterwohnviertel.

      Aber der Verkehr sucht sich einen anderen Weg, wenn ihm ein Hindernis vor die Räder gelegt wird. So brandete er nun durch die Nebenstraße, eine enge düstere Schlucht, die auch durch die bunten Karossen nicht verschönert wurde. Viele Gebäude standen leer, die Scheiben eingeworfen, durch die zerlöcherten Dachrinnen tropfte das Wasser, ein Taubenparadies. Für die, die dort wohnen mussten, wurde es nun noch schlimmer. Conrad fotografierte die neu gefärbten Fassaden. Das Alte, den Dreck, wollte keiner sehen, am wenigsten zum Jahrestag.

      Als er den Apparat wieder absetzte, umringte ihn eine Gruppe Jugendlicher: „He, bist du etwa von der Zeitung? Sieh dir lieber die Rückseiten an, die haben sie nämlich glatt vergessen.“ Ein jungen Mann mit dünnem Haar hielt Conrad sein Glas Bier vor die Nase: „Komm, trink einen Schluck mit.“ Conrad hatte es riskiert abzulehnen, obwohl das in solchen Situationen unklug war. Aber die Leute gaben sich nicht beleidigt: „Na gut, mit dem Auto“, sagte der Wortführer, „da trink ich eben mein Bier selbst, ist ja 40. Jahrestag, da mach auch ich meine Amnestie mit dem Staat. 13 Monate war ich im Knast, weil ich das Maul zu weit aufgerissen hatte, vergessen“, sagte er versöhnlich und trank das Bier in einem Zug aus.

      Conrad fotografierte die Rückseiten der Häuser für das private Archiv. Rohes Mauerwerk, Salpeter bis in das Erdgeschoss, defekte Dachrinnen, halb eingefallene Schuppen und ein entsetzlicher Unrat, alles, was nicht mehr gebraucht wurde, lag herum.

      Der Mann mit dem Bierglas war ihm gefolgt: „Fotografiere das ruhig“, sagte er, „die DDR im Kleinen.“ Und dann begann er zu erzählen, vielleicht hatte ihm das Bier die Zunge gelöst, jedenfalls war er sehr mitteilsam. Er ärgerte sich über die schlechte Behandlung der Arbeiter. Als Niederdruckheizer müsse er im Winter oft 13 Stunden am Tag arbeiten, der Verdienst wäre dadurch nicht schlecht und er wolle nicht weg, aber dass er nur 18 Tage Urlaub bekomme, dass sehe er nicht ein, wo doch die Verwaltung, die immer mit der Kaffeekanne herumrenne, 26 Tage bekomme. Nein, gerecht wäre das nicht. Er wäre schon bei der Gewerkschaft gewesen, aber natürlich umsonst.

      Es war nicht zu überhören, die Zeit der Sprachlosigkeit ging zu Ende, Conrad war aufgefallen, dass die Leute immer offener ihre Meinung sagten. Die Partei, die doch vorgab, auf alles eine Antwort zu wissen, stand dieser Erscheinung hilflos gegenüber, hier half kein Lehrbuch weiter. Und so sah man in jedem, der seine Meinung offen sagte, einen Unruhestifter.

      Am Ende der Fußgängerzone stand der Quell des Bieres, ein Wagen mit strammen Brauereipferden davor gespannt. Natürlich kein Freibier zur Feier des Tages, 50 Pfennig

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