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Götter und Göttinnen existieren. Da es verschiedene Aspekte von Männlichkeit und Weiblichkeit gibt, wird es folglich wohl auch verschiedene Göttinnen geben, die verschiedene Aspekte von Weiblichkeit verkörpern. Wie lassen sich diese systematisieren?

      Der Mensch erlebt sich ursprünglich als Teil einer Landschaft. In dieser gibt es ein Oben und ein Unten, vier Himmelsrichtungen und eine Mitte. Die Himmelsrichtungen haben bestimmte Eigenschaften, die von Kontinent zu Kontinent, von Kultur zu Kultur verschieden sein können. Universell ist aber der tägliche Lauf der Sonne am Himmel: vom Aufgang am Morgen über den Höchststand am Mittag bis zum Untergang am Abend und der Verborgenheit in der Nacht. Ähnliches gilt für den Mond, der innerhalb von 29 Tagen vier Phasen durchläuft. Der Mensch steht im Mittelpunkt dieser vier Kardinalpunkte und zwischen oben und unten. Die vier Himmelsrichtungen können nun beispielsweise mit folgenden symbolischen Korrespondenzen verbunden werden (nach Wolf-Dieter Storl, Naturrituale, S. 72 - 74):

      • Osten: Aufgehendes Licht, taufrischer Morgen, Frühling, Ostara, Werden, Heilen, Erscheinen, China: grüner Drache, Christen: Raphael, göttlicher Heiler – Göttin als junges Mädchen

      • Süden: Mittagssonne, Sommer, Wärme, Zenith, volle Entfaltung, Belenos, Baldur, Lukas-Stier, China: zinnoberroter Phönix, Göttin als Frau

      • Westen: Sonnenuntergang, Abend, Herbst, Ernte, Abstieg, Untergang, Tod, Avalon, Totenreich, China: weißer Tiger, Alter, Austrocknen, Lugh, Michael (Drachentöter), Markus-Löwe, Göttin als alte Frau/Mutter.

      • Norden: Kälte, Finsternis, Winter, Tod, Stille, Meditation, Weisheit, Klarheit des Geistes, Riesen, Hel. Polarstern, Kailash, China: Schwarze Schildkröte (Urchaos). Johannes-Adler

      • Oben: Himmel, Devas, leuchtende Gottheiten

      • Unten: Unterwelt, inneres Licht der Erde, Erdgöttin, Frau Holle, Götterwiese, untere Großmutter (Cheyenne), Reich unter den Pflanzenwurzeln,

      • Mitte: Midgard, Herz, Essenz, Menschen, Buddha, Shiva, Thron des Kaisers (China)

      Wie wir sehen, wird die Vierteilung der horizontalen Menschenwelt ergänzt durch eine Dreiteilung der Welt in Oberwelt, Unterwelt und Himmel; die Achse bzw. Verbindung zwischen den Ebenen bildet in vielen Mythologien ein Weltenbaum (z. B. die Weltesche Yggdrasil). Dieses schamanische Weltbild ist wohl die älteste und ursprünglichste Kosmologie des Menschen.

      Die Göttin, deren Verehrung vermutlich am Anfang menschlicher Kultur und Religion stand, müsste also vier Gesichter haben. In den heute verbreiteten Hexenkulten, insbesondere in den Strömungen, die unter der Bezeichnung „Wicca“ laufen, ist aber meist nur von drei Gesichtern die Rede: Die Göttin erscheint als junges Mädchen (zunehmender Mond), als vollerblühte reife Frau (Vollmond) und als alte, weise Frau (abnehmender Mond). Dies erscheint auch insofern plausibel, als sich das Jahr in eine Phase der Empfängnisbereitschaft (Frühling), eine Zeit der Trächtigkeit-Fruchtbarkeit (Sommer, Herbst) und eine Phase der Unfruchtbarkeit (Winter) einteilen lässt. Außerdem lassen sich eine weiße, schwarze und rote Erscheinungsform der Göttin ausmachen.

      Es gibt jedoch schwerwiegende Einwände gegen die heutzutage beliebte Dreiteilung, die sich sowohl aus natürlichen Gegebenheiten als auch aus dem mythologischen Material ergeben. Zum einen gibt es bei den Mondphasen nicht nur drei, sondern vier Phasen: zunehmender und Vollmond, abnehmender und Neumond (Dunkelmond, Schwarzmond). Die Menstruation der Frau, die wohl mit dem Mondzyklus in Verbindung steht, lässt ebenfalls vier Phasen erkennen:

      1. Präovulatorische Phase oder Ei-Reifung.

      2. Ovulationsphase, beginnend mit dem Eisprung.

      3. Prämenstruelle Phase, Abfall von Gelbkörperhormon und Östrogen.

      4. Menstruelle Phase.

      Wie Jutta Voss zu Recht kritisiert, herrscht eine weitverbreitete Tendenz, die menstruelle „Dunkelmond“-Phase zu vernachlässigen. Sie schreibt:

      Auch die Sonne, die in vor-patriarchalischer Zeit ebenfalls als Göttin gesehen wurde, durchläuft im archaischen Weltbild vier Phasen: Sonnenaufgang im Osten, Höchststand an Mittag im Süden, Untergang im Westen und nächtliche Reise unter der Erde hindurch nach Osten, wobei sie an Mitternacht genau im Norden steht. In der griechischen Mythologie fällt uns zudem auf, dass Aphrodite keineswegs als „rote“ Göttin bezeichnet wird, wie man erwarten könnte, sondern schon bei Homer konstant „die Goldene“ genannt wird. Pythagoras soll gesagt haben, dass die vier weiblichen Lebensalter nicht umsonst nach vier Göttinnen benannt seien: Die Jungfrau heißt Kore, die junge Frau Nymphe, die Mutter Meter, die Großmutter Maia (Iamblich. De vita Pyth., 56).

      Wesentlicher als solche Stellen aus der spätantiken Literatur ist jedoch die psychologische Tatsache, dass Menschen die vier Gesichter der Göttin auch heute noch erleben – in Visionen, Tagträumen, Offenbarungen (oder Comics). Ein sehr überzeugendes Beispiel hierfür sind die „Visionen der vierfachen Göttin“ der Kölner Ärztin Bärbel Kreidt, die 1988 eine Visionssuche in der kalifornischen Wüste unternahm und dort nach dreitägigem Fasten von einer Serie archetypischer Bilder überschwemmt wurde, die sich schließlich als die vier Gesichter der Göttin erwiesen.

      Zunächst erschien ihr, aus dem Süden kommend, die Goldene (die Liebesgöttin):

      Als nächste erscheint aus dem Westen eine tiefschwarze, isisartige, verschleierte Gestalt, die folgende Erklärung abgibt:

      Ich bin die Göttin, die alle Rätsel löst (…) Ich löse alle Rätsel, weil ich alles weiß. Die Goldene hat mich zu dir geschickt. Jeder Mensch muss mich wenigstens einmal im Leben anschauen. Verschleiert, weil unverschleiert mein Anblick unerträglich ist. Aber wer Wissen sucht, kann mich bitten, meinen Schleier zu heben.

      Als die Gestalt schließlich auf Kreidts Bitten hin ihren Schleier lüftet, bietet sich ein Bild des Grauens, wie es in Indien von Kali verkörpert wird:

      Ihr Gesicht! Das namenlose Grauen, das Entsetzen, Tod, Krieg, Krankheit, Gemeinheit, Folter aller Zeiten und der ganzen Welt sind darin zu sehen. Ich höre das Schreien, das Weinen, die Verzweiflung. Es kommt einfach aus ihrem Gesicht. Ein Gesicht – steinalt, alterslos. Ein Urbild von Hässlichkeit. Unfassbar. Mit Augen, die sich vor nichts verschließen. Ich nehme das in mich auf und höre noch ihre Stimme, die mir sagt, es komme darauf an, sie nicht nur zu ertragen, sondern zu lieben. Ich könne zu ihr kommen, wann immer ich wolle.

      Die dritte Gestalt kommt aus dem Norden und verkörpert Eigenschaften, wie wir sie von Artemis und Athene kennen:

      Wieder später. Ich entdecke

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